Der geschmuggelte Henry
dem Schrank, breitete es auf dem Bett aus, blickte darauf hinunter und wartete auf eine Botschaft von ihm.
Einst war es unerreichbar gewesen und das Begehrteste und Ersehnteste auf Erden. Aber dann hatte sie es bekommen, denn es lag hier vor ihren Augen, fast so neu und frisch wie an jenem Tage, als sie es in Paris in ihr Köfferchen gepackt hatte.
Auch damals hatte das Kleid sie in ein Dilemma gebracht, das unlösbar schien, und dennoch hatte sich schließlich alles in Wohlgefallen aufgelöst, denn sie hatte es bekommen.
Und da war auch noch die häßliche Brandnarbe in der Samtbahn, die sie nie repariert hatte, damit sie sie an etwas erinnerte, was sie wußte, aber oft vergaß, nämlich, daß die Welt und alles, woraus sie besteht — die Natur, die Elemente, die Menschen—, nie ganz vollkommen sein können und nichts es auch jemals wirklich ist. In jeder Suppe schien ein Haar zu sein. Die Botschaft des Kleides hätte lauten können:
Und während sie nun das Kleid betrachtete, um das sie einst so tapfer gekämpft hatte, wußte sie in ihrem Herzen, daß es noch andere Werte gab, daß es in der Lage, in der sie sich jetzt befand, um etwas ganz anderes ging. In dem Dilemma damals, das im letzten Augenblick aufgetaucht war und gedroht hatte, das ganze Abenteuer des Diorkleides zunichte zu machen, war ihr von einem anderen geholfen worden. Doch in diesem Dilemma, dem sie jetzt gegenüberstand — sollte sie das Kind, das ihr ans Herz gewachsen war, einem Mann geben, der offensichtlich als Vater ungeeignet war, oder es seinen grausamen Pflegeeltern zurückbringen? — wußte sie, konnte ihr niemand helfen — die Schreibers nicht, und erst recht nicht Mrs. Butterfield, nicht einmal Mr. Bayswater oder ihr Freund, der Marquis. Sie mußte selber die Entscheidung treffen, und zwar schnell, und wie sie sich auch entschied, sie wußte, sie würde wahrscheinlich ihren inneren Frieden nie wiederfinden. So mußte es kommen, wenn man sich in anderer Menschen Leben einmischte.
Einen Augenblick lang, als sie auf das leblose, stumme Kleid hinuntersah, kam es ihr fast schäbig vor, wenn sie an die Arbeit und Kraft dachte, die sein Erwerb sie gekostet hatte. Sie allein hatte gelitten, als die häßliche kleine Londoner Schauspielerin, der sie es eines Abends in einer Anwandlung von Großmut geliehen hatte, es ihr zurückbrachte, nachdem sie seine Schönheit durch ihre Nachlässigkeit und Sorglosigkeit zerstört hatte. Das Kleid hatte nichts gefühlt. Aber was immer sie mit dem kleinen Henry Brown machte, ob sie dem abscheulichen, bäurischen und selbstsüchtigen Mann enthüllte, daß Henry sein Sohn war, oder ihn den hassenswerten Gussets zurückbrachte, der kleine Henry würde für den Rest seines Lebens darunter leiden und ebenso sie selber. Es gab viele Situationen, mit denen eine Londoner Putzfrau aus angeborener Schläue und Erfahrung fertig werden konnte, aber diese gehörte nicht dazu. Sie wußte nicht, was sie tun sollte, und auch ihr Talisman wollte ihr keinen Hinweis geben.
Das Kleid gab oberflächliche Aphorismen von sich:
Aber keiner von diesen brachte wirklichen Trost, keiner von ihnen löste das Problem eines Lebens, das noch gelebt werden mußte — das des kleinen Henry.
Es war ihr jetzt sogar klar, daß sie das Leben des Jungen bei den Gussets zu düster gesehen — andere hätten gesagt, es dramatisiert hatte. War er wirklich so unglücklich gewesen? So mancher Junge hatte Püffe und Schläge einstecken müssen und war dennoch ein großer oder zumindest guter Mann geworden. Henry besaß die Zähigkeit und den guten Charakter, um an solcher Behandlung nicht zugrunde zu gehen. Er wäre bald so groß gewesen, daß Mr. Gusset ihn nicht mehr hätte verprügeln können. Er wäre in die Schule gekommen und dann vielleicht in eine Berufsschule, hätte eine Stellung gefunden und hätte ganz glücklich in der Umgebung gelebt, in die er hineingeboren war, so wie sie und Millionen anderer ihrer Schicht.
Plötzlich überwältigte sie das Gefühl ihres
Weitere Kostenlose Bücher