Der geschmuggelte Henry
in seiner Jugend viele Jahre lang in London gelebt hatte und von Mrs. Harris wissen wollte, was sich dort inzwischen verändert hatte.
Sie fand Browns, die im Kriege Flieger, Soldaten und Matrosen gewesen waren, und viele waren natürlich zu jung oder zu alt, um Henrys Vater sein zu können.
Nicht alle waren freundlich zu ihr. Einige wiesen sie grob ab: «Was reden Sie da von einer Kellnerin, die ich in England geheiratet haben soll? Ich habe eine Frau und drei Kinder. Machen Sie, daß Sie wegkommen, sonst bekomme ich noch Ärger.»
Nicht alle, die in London gewesen waren, liebten diese Stadt. Und wenn sie erfuhren, daß Mrs. Harris von dort kam, sagten sie, sie wollten das Drecknest nie Wiedersehen.
Sie befragte Browns, die Klempner, Tischler, Elektriker, Taxifahrer, Anwälte, Schauspieler, Radiotechniker, Wäscher, Makler waren, reiche Männer, Männer aus dem Mittelstand, Arbeiter, denn sie hatte die Namen nicht nur aus dem Telefonbuch, sondern auch aus dem Adreßbuch herausgesucht. Sie läutete an allen Arten von Türen, in jedem Stadtteil, und sagte dann jedesmal: «Ich hoffe, ich störe Sie nicht. Mein Name ist Harris — Ada Harris ich komme aus London. Ich suche einen Mr. George Brown, der drüben bei der amerikanischen Luftwaffe war und eine alte Freundin von mir geheiratet hat, ein Mädchen namens Pansy Cott. Sind Sie es vielleicht?»
Keiner von ihnen war der, den sie suchte, aber in den meisten Fällen mußte sie Henrys Geschichte erzählen, die fast immer auf interessierte und mitfühlende Ohren stieß, so daß sie, wenn sie wieder ging, das Gefühl hatte, einen neuen Freund gefunden zu haben, und manche baten sie sogar, wieder einmal etwas von sich hören zu lassen.
Wenige geborene New Yorker dringen so tief in ihre Stadt ein, wie es Mrs. Harris tat, die sich ebenso in die Häuser der Reichen in den breiten Straßen der Gegend des Central Parks aufmachte, wo es hell und luftig war, wie in die armseligen Straßen der Unterstadt, in die Slums der Bowery und der Lower East Side.
Sie entdeckte jene kleinen Stadtstaaten inmitten New Yorks, in denen jeweils Leute einer Nation ansässig sind — Yorkville, Klein-Ungarn, das spanische Viertel und Klein-Italien um die Mulberry Street herum. Es gab sogar einen George Brown, der Chinese war und in der Pell Street, im Herzen von New Yorks Chinatown, lebte. So sah sie in einem Monat unermüdlicher Suche nach Henrys Vater einen Querschnitt des amerikanischen Volkes, der ihr den Eindruck bestätigte, den sie von den amerikanischen Soldaten in England gehabt hatte. Im großen und ganzen waren sie nett, freundlich, warmherzig, großzügig und gastlich. Die meisten von ihnen waren sehr bemüht, ihr zu helfen, und viele der George Browns versprachen, sich bei allen ihren Bekannten gleichen Namens in anderen Städten zu erkundigen. So mancher von ihnen sehnte sich wie ein Kind nach Liebe. Sie entdeckte an ihnen ein merkwürdiges Paradox: Auf der Straße hatten sie es so eilig, daß sie für niemanden Zeit hatten, nicht einmal, um stehenzubleiben, wenn ein Fremder sie nach dem Weg fragte — sie rannten einfach weiter, ohne etwas zu sehen oder zu hören. Und blieb einmal einer stehen, dann war er selber ein Fremder. Aber zu Hause waren sie alle freundlich, hilfsbereit, freigebig und besonders gastlich, wenn sie erfuhren, daß Mrs. Harris Engländerin war. Und es machte ihr das Herz warm, zu entdecken, daß die Amerikaner ihre Bewunderung für das Verhalten des englischen Volkes während der Bombardierung Londons nicht vergessen hatten.
Aber da war noch etwas anderes. Nachdem Mrs. Harris ihre Ehrfurcht vor den gewaltig hohen Gebäuden verloren hatte, in denen sie oft in Expreßfahrstühlen hinauffuhr — die erst im dreißigsten Stockwerk zum erstenmal anhielten—, wobei ihr fast übel wurde, ebenso wie vor den dunklen, lärmenden Straßenschluchten, wurde ihr erst die ganze Macht und Größe New Yorks bewußt und vor allem die Jugend dieser Riesenstadt und die tausendfältigen Möglichkeiten, reich zu werden, die sie ihren Bürgern bot.
Wie froh war sie, daß sie den kleinen Henry nach Amerika gebracht hatte. In der geistigen Unabhängigkeit, Wendigkeit, Findigkeit und Entschlossenheit der Menschen dieses Landes spiegelte sich eine jugendliche Kraft, die sich überall durchzusetzen vermochte. Sie selber würde zwar nicht für immer hier leben können, aber der kleine Henry würde hineinwachsen und vielleicht, wenn man ihm nur die Chance gab, selber etwas Großes
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