Der gestohlene Traum
brauche doch nichts, Hauptsache, du bist gesund und glücklich. Du sollst mir keine Geschenke machen, gönne dir lieber mehr Ruhe und schufte nicht ständig in dieser Autowerkstatt. Wir haben doch alles, wir brauchen keinen zusätzlichen Verdienst.«
Solche Worte brachten das Herz des zweifach vorbestraften Fistin zum Schmelzen.
Eines späten Abends fühlte sich Tonja plötzlich unwohl. Sie nahm sich lange zusammen, spielte die Tapfere und Fröhliche und redete sich ein, ihr Unwohlsein hätte natürliche Gründe, da sie schwanger war. Als eine Blutung einsetzte, erschrak sie nicht wenig, und ihr Mann verfiel in Panik. Als die Erste Hilfe nach einer halben Stunde immer noch nicht da war, beschloss Nikolaj, seine Frau selbst ins Krankenhaus zu bringen. Zu einem eigenen Auto hatte er es bis dahin noch nicht gebracht, er musste einen Privatwagen auf der Straße anhalten und dachte mit Entsetzen an die Szene, zu der es mit dem Wagenbesitzer wegen des Blutes auf dem Autositz kommen würde. Seine größte Angst war in diesem Moment, dass Tonja das Kind verlieren würde. Aber an zweiter Stelle stand die Angst davor, dass er sich nicht würde zurückhalten können und den Autobesitzer verprügeln, falls er einen Aufstand machen sollte. Das würde ihm eine dritte Haftstrafe einbringen, und dann war es vorbei mit dem schönen Familienleben . . .
Er lief nach unten, stürzte mit erhobener Hand auf die Kreuzung und wäre fast unter die quietschenden Räder eines Wolga gekommen, hinter dessen Steuer Gradow saß, ein Nachbar aus dem fünften Stock, der in Fistin sofort den Schlosser erkannte, der gelegentlich seine teure, importierte Sanitäreinrichtung reparierte.
»Was ist los, Nikolaj?«, fragte Gradow.
»Meine Frau muss dringend ins Krankenhaus. Ich habe die Erste Hilfe angerufen, aber sie kommt nicht. Ich habe Angst, dass Tonja verblutet, und möchte einen Privatwagen anhalten.«
»Ich werde sie fahren«, sagte Gradow, ohne zu überlegen. »Kommt sie bis auf die Straße, oder müssen wir sie tragen?«
»Wo denken Sie hin, Sergej Alexandrowitsch«, sagte Nikolaj verwirrt, »das Blut würde Ihnen die ganzen Autositze ruinieren.«
Die Sitze in Gradows Wagen waren in der Tat luxuriös, mit weißem Fell bezogen.
»Unsinn, lass uns fahren«, erwiderte Gradow bestimmt. »Mach dir keine Sorgen wegen der Sitze, wenn sie anschließend hinüber sind, wirst du mir bis an dein Lebensende umsonst mein Klo reparieren.«
Sergej Alexandrowitsch brachte Tonja nicht irgendwohin, sondern in eine gute Klinik, wo er sie als eine Verwandte ausgab. Als Fistin all die Pracht dort sah, das luxuriöse Einzelzimmer, die hypermoderne Apparatur, die freundlichen, zuvorkommenden Krankenschwestern, war es um ihn geschehen. Es gelang den Ärzten, die Blutungen zu stoppen, und nachdem Nikolaj ein Sohn geboren war, zweifelte er nicht mehr daran, dass er für ewig in Gradows Schuld stand.
Bei einem Restaurantbesuch mit Freunden wurde Gradow im Jahr 1991 Zeuge einer gewalttätigen Auseinandersetzung mit Schlagringen und Schusswechsel. Einige der Beteiligten kamen ihm bekannt vor.
Gradow ging zum Direktor des Restaurants, den er seit vielen Jahren kannte, und wollte von ihm wissen, warum man die Miliz nicht benachrichtigte. Der Direktor zuckte mit den Schultern.
»Wozu?«, sagte er. »Die Jungs sorgen hier für Ordnung, und wer sich nicht an die Regeln hält, bekommt eine Abreibung. Die Miliz tut hier nichts zur Sache.«
»Ich glaube, ich habe einige dieser Jungs schon einmal in der Nähe meines Hauses gesehen, sie haben sich mit Nikolaj Fistin, unserem Schlosser, unterhalten«, sagte Gradow nachdenklich.
»Wissen Sie es denn nicht?«, fragte der Direktor erstaunt. »Er ist doch ihr Boss. Sie nennen ihn Onkel Kolja.«
Als Gradow kurze Zeit später Nikolaj zu sich rief und ihm ein neues Betätigungsfeld anbot, stimmte Nikolaj mit Freuden zu. Es wurde mit jedem Tag schwerer, die Gegend zu kontrollieren. Nikolaj war es gelungen, ein Stück des Terrains an sich zu reißen und es eine Weile zu beherrschen, aber allmählich tauchten jüngere Haie mit schärferen Zähnen auf, die die bestehenden Spielregeln nicht anerkannten und denen Nikolaj nicht gewachsen war. In den neuen Verhältnissen kam man mit Muskelkraft allein nicht mehr weit, es war Köpfchen gefragt, aber damit sah es bei Nikolaj nicht so gut aus. Gradows Angebot kam genau im richtigen Moment. Nikolaj konnte sich, ohne sein Gesicht zu verlieren, aus dem Geschäft zurückziehen und sich einer
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