Der Gipfel
ähnliche Werte hatte, sich außergewöhnlich gut an die Höhe angepaßt hatten. Dr. Hunts eigener Wert lag zwischen 70 und 80; der eines ihrer Sorgen kinder nur um 60, ein Ergebnis, das sie »als zu niedrig, sogar für hier oben« 20 bezeichnete.
Boukreev, der eine naturwissenschaftliche Ausbildung hatte, erinnerte sich an den Test, der ihn nicht überzeugte. »Diese Werte sagten mir wenig, außerdem glaubte ich nicht so recht an den Test. An äußeren Anzeichen kann man viel mehr ablesen.« Wie auch immer, Boukreev und Dr. Hunt waren sich einig, daß sich einige Kunden beim Gipfelvorstoß einem großen Risiko aussetzten.
Während der Ruhephase diskutierten wir unser Vorgehen bei der Akklimatisation eingehend und setzten für den 23. April eine Tour zum Lager III an. Bis dahin hätten die Sherpas wie geplant das Lager errichten und verproviantieren müssen. Es war ein Anstieg, auf den wir nicht verzichten konnten. Ich betonte, wie wichtig es sei, einige Zeit auf dieser Höhe zu verbringen, und schlug vor, wir sollten nach einer Nacht in Lager III vor dem Abstieg eventuell noch zwei- oder dreihundert Meter höher gehen. Meiner Erfahrung nach steigerte ein solcher erfolgreicher Aufstieg in Verbindung mit einer ausgiebigen anschließenden Ruhepause die Erfolgschancen über 8000 Meter ganz erheblich.
Ziel aller Touren war nicht nur eine gute Akklimatisation, sondern auch der Aufbau einer Energiereserve, wie Boukreev immer wieder betonte. Er wurde nicht müde, die Kunden zu ermahnen, daß diese Touren Kraft verbrauchten, Kraft, die sie auch während der Pausen nicht ganz zurückgewinnen konnten, da »volle Kompensation nicht einmal während einer langen Ruhephase im Basislager möglich ist.« Boukreev gewann zunehmend den Eindruck, daß diese Ermahnung auf taube Ohren stieß. Die Leute verstanden unter Akklimatisation etwas ganz anderes, nämlich Höhensteigerung von einer Tour zur anderen. Eine Ausnahme war Martin Adams.
An einem unserer Ruhetage führten Martin und ich vor dem Abend essen ein Gespräch, und er fragte mich, ob er meiner Meinung nach Erfolgschancen hätte. »Letztes Mal, als wir am Makalu waren, hatte ich keine Probleme mit der Höhe, doch nach der Nacht auf dem Makalu-La-Pass und dem Abstieg ins Basislager war ich mit meiner Kraft am Ende. Auch nach dem Ausruhen fühlte ich mich ausgepumpt und hatte keine Lust, einen Gipfelvorstoß zu versuchen.«
Boukreev, der sich an Adams’ Zustand auf dem Makalu erinnerte, gab ihm zu bedenken, daß er damals in rascher Folge mehrere Akklimatisationstouren gemachte hatte, ohne sich dazwischen ausreichend Ruhe zu gönnen.
»Du mußt dich mit möglichst wenig Hochlager-Nächten akklimatisieren. In der Pause vor unserem Gipfelvorstoß mußt du ausruhen, anständig essen und dich total entspannen. Noch viel besser wäre es, wenn du vom Basislager bis zur Waldgrenze absteigst, in sauerstoffreichere Luft. Der Regenerationsprozeß verläuft viel rascher und effektiver, wenn die Luft nicht so dünn ist. Ein langer Marsch fördert auch die Muskelspannkraft. Eine Aktiverholung ist besser als das Herumhocken im Basislager.«
Martin Adams blieb dieser Rat in Erinnerung, und er wußte auch noch, daß er dachte: »Ich wollte eigentlich nicht, weil es ein Gewaltmarsch war, das Tal ‘runter und wieder ‘rauf.« Falls jemand noch an den Gefahren der Höhenkrankheit
Zweifel gehabt hatte, wurden diese durch eine Tragödie endgültig beseitigt. Am 22. April forderte die Höhe das erste Opfer. Eine Gruppe Sherpas stieg mit Vorräten von Lager I nach Lager II auf, darunter Ngawang Topche, der Onkel Lopsang Jangbus. Beim Abstieg von Lager II, wo er den starken Sturm überstanden und die Zelte wieder aufgebaut hatte, traf Fischer auf Ngawang Topche, der ein wenig verwirrt und angeschlagen schien. Fischer, bekannt dafür, daß ihm das Wohlbefinden der Sherpas sehr am Herzen lag, riet ihm, er solle sofort absteigen und nahm als selbstverständlich an, daß der Mann seinen Rat befolgen würde. Er selbst stieg weiter ab, da er sich nach seiner Plackerei in Lager II eine Ruhepause gönnen wollte, aber Ngawang Topche folgte ihm nicht. Aus irgendeinem Grund – sei es aus Stolz, sei es, daß er Fischers Rat mißverstanden hatte oder daß er durch seinen Zustand bereits nicht mehr Herr seiner Entscheidungen war – ging er statt dessen bergauf.
Per Funk setzte Lager II das Basislager von dem Problem in Kenntnis. Wie ein betrunkener Seemann auf sein Schiff war der Sherpa irgendwie
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