Der gläserne Sarg
darf doch Sam zu Ihnen sagen?«
»Aber freilich, Herr Inspector. Ich … ich weiß ja nicht …«, Sam sitzt auf der vorderen Kante des Stuhles und dreht unentwegt seinen Hut zwischen den Händen, »ja … es ist wahrscheinlich nichts Wichtiges, aber ich wollte es Ihnen doch sagen. Und Susan meinte auch … ja, Susan ist meine Frau, wir sind schon über dreißig Jahre verheiratet … auch Susan fand das sehr merkwürdig …«
»Sam«, versucht der Inspector das Nervenbündel vor ihm zu beruhigen, »wir haben einen Mord, vielleicht sogar zwei Morde aufzuklären. Da sind wir für jeden Hinweis dankbar. Wir brauchen Menschen wie Sie, denen etwas auffällt, was nicht in Ordnung ist.«
»Nicht in Ordnung? In Ordnung war es vielleicht schon … nur … sie hat es bisher noch nie getan …«
»Zigarette?« Collin holt seine Packung aus der Brusttasche und hält sie dem Alten hin. Vielleicht beruhigt ihn das Rauchen.
»Und nun erzählen Sie einmal der Reihe nach. Wer hat es bisher noch nicht getan?«
»Miß Whyler, Inspector …«
»Miß Whyler?!« Jacklow und Collin rufen den Namen wie aus einem Munde. Und Jacklow fügt – zu dem Lieutenant gerichtet – hinzu: »Ihr Engel, Collin …«
»Ja, sie ist noch nie in ihrem Bühnenanzug aus dem Theater gegangen.«
»Sie meinen das Kostüm, das sie bei ihrem Auftritt mit Jim Dhiser trägt? Was hat sie denn da an?«
»Das ist es ja. Sie hat kein Kostüm an, sie ist angezogen wie ein Mann. Schwarze Hose, schwarze Jacke, weißes Hemd und eine rote Schleife … und wenn sie die Bühne betritt, hat sie auch noch einen Hut auf.«
»Und so hat sie gestern das Theater verlassen?«
»Ja, sie hatte sogar den Hut aufgesetzt … ich weiß ja nun nicht, ob das wirklich so wichtig ist, aber weil auch Susan meint, ich solle das ruhig einmal sagen …«
»Jedenfalls scheint es ungewöhnlich zu sein. Hat sich denn Miß Whyler sonst immer umgezogen? Bevor sie nach Hause ging?«
»Immer! Und sie sah ja auch in ihrem Rock und mit den hochhackigen Schuhen immer so gut aus … ich weiß ja nicht, was Sie denken, Herr Inspector, aber mir gefallen Frauen in Hosen nicht … die Männer müssen die Hosen anhaben … und meiner Susan, der hätte ich das nie erlaubt, Hosen anzuziehen.«
»Aber Miß Whyler meint, den Zuschauern in ihrem Anzug gefallen zu haben …«
»Auf der Bühne, Herr Inspector. Na ja, sie war ja so schlank … nicht nur da oben …«, Sam deutet mit seiner linken Hand auf seine Brust, »… da sah sie auch fast wie ein Mann aus …«
»Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen, Sam?«
»Noch etwas – nein, das war alles. Vielleicht war es ja doch nicht notwendig, daß ich hierher gekommen bin und Ihnen Ihre Zeit gestohlen habe. Und ich möchte auch Miß Whyler nichts Böses tun. Sie ist ja immer so nett und spricht auch ab und zu ein Wort mit mir. Viele vom Theater gehen immer nur so an mir vorbei … Sie werden es ihr doch nicht sagen, daß ich Ihnen das erzählt habe?«
»Keine Sorge, Sam. Das bleibt eine Sache zwischen Ihnen und uns. Wir sind Ihnen jedenfalls sehr dankbar. Und wenn es im Theater wieder einmal etwas Außergewöhnliches gibt, dann sind der Lieutenant oder ich jederzeit für Sie zu sprechen.«
Langsam steht Sam auf. Das Lob hat ihn noch verlegener gemacht. Er ergreift die Hand von Jacklow und schüttelt sie lange. Der Inspector muß sich regelrecht aus seinem Griff befreien.
Collin bringt den Portier hinaus und zeigt ihm den Weg nach unten zum Ausgang.
Als er zurückkommt, sitzt Jacklow in seinem Sessel und grinst.
»Na, Sie Spürhund, wie beurteilen Sie denn das Verhalten Ihres Schützlings?«
»Was soll ich da sagen, Chef, vielleicht ist sie lesbisch und ging zu einem Rendezvous …«
»Irrtum, mein Lieber, ein gewisser Lieutenant Collin hat mir vor nicht allzulanger Zeit berichtet, daß sie schnurstracks in ihre Pension zurückgegangen sei … wann ist sie übrigens dort angekommen?«
»Nach der Aussage von Mrs. Vanhuisen etwa um zweiundzwanzig Uhr.« Jacklow greift nach der Anwesenheitsliste: »Und im Theater ist sie um einundzwanzig Uhr weggegangen … Collin, was würden Sie schätzen, wie lange braucht man vom ›Globe-Theater‹ bis zur Avenue St. Mills?«
»Wenn man mit dem Bus fährt, sicher fünfzig Minuten. Mit dem Taxi etwa dreißig Minuten …«
»So wie ich die verwöhnte junge Dame kenne, wird sie sicher das Taxi bevorzugt haben. Und damit kommen wir nun zu unserer Frage: Was machte das wie ein Mann gekleidete Fräulein in den
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