Der gläserne Schrein (German Edition)
Bruder Christophorus?»
«Ihr meint, Sie könnte eine heimliche Liebschaft …?»
«Nein.» Bardolf schüttelte den Kopf. «Das ganz sicher nicht. Aber dennoch könnte ein anderer Mann dahinterstecken.»
«Ein anderer Mann.» Christophorus meinte, plötzlich einen bitteren Geschmack auf der Zunge zu haben.
Bardolf nickte und musterte ihn erneut aufmerksam. «Ich halte es für vorstellbar.»
Ehe Christophorus etwas erwidern konnte, gellten Schreie über den Kaxhof, den sie soeben erreicht hatten. Menschen liefen beim Dom zusammen.
«Da ist etwas geschehen!» Bardolf beschleunigte seine Schritte.
Christophorus folgte ihm auf dem Fuße. Als sie den Dom erreichten, kam gerade einer der Maler durch das Portal gerannt. «Ein Unfall!», rief er. «Wir brauchen Hilfe! Der Baumeister ist tot.»
9. KAPITEL
Marysa blieb nicht lange an der Unglücksstelle. Nachdem sie sich überzeugt hatten, dass Bardolf und seine Gesellen nicht unter den Opfern waren, kehrte sie mit ihrer Mutter in die Kockerellstraße zurück. Bardolf helfe mit einigen anderen Männern, die Trümmer des herabgestürzten Dachbalkens und der neuerlich umgefallenen Gerüste abzutransportieren, sagte man ihnen. Dies würde vermutlich noch eine Weile dauern.
Da sich Jolánda beruhigt hatte, beschloss Marysa, wieder nach Hause zu gehen, denn sie wollte für die beiden ungarischen Augustiner ein Handelsangebot ausarbeiten. Ihr Großvater hatte sich erboten, ihr dabei zu helfen, und wollte sie deswegen am morgigen Tag aufsuchen. Bis dahin, so hatte sie beschlossen, würde sie bereits selbst etwas vorzuweisen haben. Zusammen mit Milo und Jaromir wanderte sie also erneut in Richtung Dom, am Augustinerkloster vorbei, dann über den Kaxhof. Dort traf sie auf Bardolf, dessen Mantel verstaubt und an einem Ärmel eingerissen war. Seine Miene drückte Betroffenheit aus, als er auf sie zukam. «Marysa, was machst du denn hier? Deine Mutter hat dich doch wohl nicht geschickt, nach mir zu sehen?»
Marysa schüttelte den Kopf. «Aber nein, Bardolf. Ich bin auf dem Heimweg. Mutter hat sich sehr aufgeregt, aber inzwischen wieder beruhigt.» Sie hielt kurz inne. «Wir haben alle einen ziemlichen Schreck bekommen, als Ulf uns von dem neuen Unfall berichtete. Was, in Gottes Namen, ist denn geschehen? Er sagte etwas von einem Deckenbalken …?»
Bardolf seufzte und fuhr sich mit gespreizten Fingern durch sein dunkelblondes Haar. Holzspäne rieselten herab. Marysa wischte sie sanft von seinen Schultern. «Einer der Gewölbebalken. Bei Gott, es hätte noch schlimmer kommen können. Er hat ein Gerüst mit sich gerissen und zwei der Regale zertrümmert. Drei Menschen sind ums Leben gekommen.»
«Drei?» Entsetzt bekreuzigt sich Marysa. «Wie schrecklich! Wer …?»
Bardolf blickte kurz über die Schulter und winkte seinen beiden Gesellen, die eben den Dom verlassen hatten, zu ihm zu kommen. «Der Baumeister des Marienstifts – einer der Dompfaffen. Er wurde von dem Balken erschlagen. Einer von Ansems Gesellen und ein Knecht wurden unter dem Gerüst begraben.»
«Wie konnte das passieren?», fragte Marysa und schauderte gleichzeitig. «Nach dem letzten Unfall hat man doch die Gerüste ganz neu aufgebaut.»
«Ich weiß es nicht.» Bardolf hob die Schultern. «Aber wenn so ein Balken aus dem Deckengewölbe herabstürzt, reißt er leicht auch ein stabiles Gerüst mit sich.»
«Wie soll es jetzt weitergehen?»
Bardolf hob die Schultern. «Die Kanoniker haben die Chorhalle abgesperrt. Dort wird nicht mehr gearbeitet, bis feststeht, wie es zu dem Unfall kommen konnte. Die anderen Gewölbebalken müssen auch kontrolliert werden. Nicht auszudenken, wenn noch einmal so etwas geschähe!»
Inzwischen waren die beiden Gesellen, Bastian und Engelbert, bei ihnen angekommen. «Die Dompfaffen halten ihre Messe ab, trotz des Unfalls», berichtete Bastian, der ältere von ihnen, mit grimmiger Miene. «Die haben vielleicht Nerven. Was sind schon ein paar tote Arbeiter mehr oder weniger?»
«Bastian!» Mit strenger Miene schüttelte Bardolf den Kopf.
«Ist doch wahr», mischte sich nun auch Engelbert ein und tippte sich an die Schläfe, wo sich feuerrote Locken kräuselten. «Die beten und beten. Aber dafür sorgen, dass wir in der Chorhalle sicher arbeiten können, tun sie nicht.»
«Nun hört schon auf», tadelte Bardolf erneut. «Lasst uns nach Hause gehen. Wir können hier nicht weiter helfen.» Er wandte sich erneut an Marysa. «Wir sehen uns spätestens auf dem Bankett, oder?»
Weitere Kostenlose Bücher