Der gläserne Schrein (German Edition)
hatte. Sie fand, dass seine ganze Erscheinung sehr männlich wirkte, für einen Geistlichen viel zu anziehend.
«Bruder Christophorus», brachte sie mit etwas Verspätung über die Lippen und wurde sich gleichzeitig bewusst, dass sie ihn angestarrt hatte. «Was für eine Überraschung.» Ihre Stimme klang spröde, doch sie tat nichts, um die Wirkung abzumildern. Einst war sie froh gewesen, dass er Aachen verlassen hatte. Sie hatte nicht erwartet, dass er noch einmal zurückkehren würde. Noch weniger hatte sie damit gerechnet, dass sie sich darüber freuen könnte.
Aber nein, sie freute sich gar nicht. Sie war bloß überrascht, redete sie sich ein. Und wer konnte es ihr verdenken? «Was macht Ihr hier?»
Christophorus musterte Marysa eingehend aus der Nähe, nun, da er die Gelegenheit hatte. Für den Bruchteil eines Augenblicks hatte er geglaubt, neben Überraschung auch einen Funken Freude in ihrem Blick wahrzunehmen. Doch dann war das geschehen, was er früher schon so oft bei ihr erlebt hatte: Ihr Blick hatte sich umwölkt und ihre Miene einen abweisenden Ausdruck angenommen. Warum nur ärgerte ihn das so? Er hatte ja gewusst, dass sie ihm nicht gerade wohlgesinnt war. Wie hatte er erwarten können, dass sich das seit ihrem Abschied damals geändert haben könnte?
Er lächelte verbindlich. «Es freut mich ebenfalls, Euch wiederzusehen, Frau Marysa. Ich weiß, ich versprach Euch, mich zuerst bei Euch anzumelden, sollte ich wieder in die Stadt kommen, aber das hat sich jetzt wohl erübrigt. Um Eure Frage zu beantworten …» Er machte eine ausholende Geste. «Ich sehe mich um.»
Er wusste, dass sie etwas anderes meinte, hatte aber das Gefühl, er müsste sich mit einem unverfänglichen Thema erst ein wenig festen Boden unter den Füßen sichern.
Marysa kniff argwöhnisch die Augen zusammen, blickte dann jedoch auf seine Hand, in der er den Schmutz hielt, den er vorher vom Boden aufgesammelt hatte. «Was ist das?», fragte sie.
Christophorus öffnete die Hand und hielt sie ihr unter die Nase. «Holzsplitter», antwortete er lapidar. «Sägespäne, um genau zu sein.»
Verwundert hob Marysa ihre rechte Hand und nahm einen der Späne zwischen die Finger. Die kurze Berührung ließ sie beinahe zurückzucken, doch sie beherrschte sich gerade noch. Trotzdem hatte sie das Gefühl, ein winziger Blitz sei durch sie hindurchgezuckt.
Entschlossen, sich nicht davon beeindrucken zu lassen, musterte sie den Span skeptisch. «Was ist so Besonderes daran?», wollte sie wissen. «Ich nehme nicht an, dass Ihr hier drinnen nach Zunder für Euer Herdfeuer gesucht habt.»
Christophorus lachte kurz auf, wurde jedoch sofort wieder ernst. «Wohl kaum, da habt Ihr recht. Ich fragte mich nur gerade, woher diese Späne wohl stammen mögen. Denn so, wie ich diese Baustelle überblicke, wird hier schon seit längerer Zeit nichts mehr gesägt. Das wäre wohl auch nicht von Vorteil, wenn man bedenkt, dass die Maler und Vergolder hier ihre Arbeit tun.»
«Bruder Christophorus, Ihr seid auch hier?» Milo und Jaromir hatten offenbar genug von der Messe, denn sie kamen nun neugierig herbeigelaufen. Milo grinste breit, um Verzeihung heischend in Marysas Richtung, woraufhin sie aber nur unwillig die Lippen kräuselte. Er deutete auf den Dominikaner. «Herrin, das wollte ich Euch vorhin erzählen. Wir trafen am Marktplatz Bruder Christophorus. Er sagte, er sei gerade in Aachen eingetroffen und noch auf der Suche nach einer Unterkunft.»
Mahnend legte Christophorus einen Finger an die Lippen. Er sagte selbst mit gesenkter Stimme. «Ich werde wohl bei meinen Ordensbrüdern in der St.-Jakob-Straße unterkommen, wenngleich ich erfahren habe, dass sie bereits einer Gruppe fremdländischer Pilger und Mönche Gastfreundschaft gewährt haben. Für ein Schlaflager mehr wird es ganz sicher noch ein Plätzchen geben.»
Marysa nickte. Sie hatte kürzlich mit Bruder Simeon gesprochen, der ihr von Besuchern erzählt hatte, die jetzt schon zur Geburtstagsfeier des Priors angereist waren. Dann fiel ihr Bruder Eldrad ein. «Gewiss habt Ihr auch schon erfahren, dass ein Inquisitor im Dominikanerkonvent weilt. Ich vermute, Ihr freut Euch schon auf gelehrte Disputationen mit ihm, von Kollege zu Kollege.»
«Bruder Eldrad ist in der Tat ein gelehrter Mann», antwortete Christophorus. «Ein Gespräch mit ihm dürfte wahrlich interessant und fruchtbar sein, aber Kollegen sind wir nicht. Nicht mehr», setzte er hinzu, als er die Überraschung auf Marysas Gesicht
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