Der gläserne Schrein (German Edition)
Er seufzte wieder. «Falls es nicht ausfällt wegen der Trauerfeier für Ansems Gesellen.» Bedauernd senkte er den Blick. «Er war ein fähiger Goldschmied.»
«Genau wie Piet», sagte Marysa leise.
Bardolf merkte auf, dann nickte er. «Du hast recht. Bis bald.»
Marysa sah ihm nach, wie er mit seinen beiden Gesellen den Weg entlangging, den sie vorher gekommen war. Dabei sah sie, dass sein Mantel auch am hinteren Saum zerrissen war.
«Lasst uns weitergehen», sagte sie und drehte sich zu ihren Knechten um. Überrascht stellte sie fest, dass die beiden nicht mehr hinter ihr standen, sondern zu der provisorischen Tür an der Chorhalle getreten waren und hineinlinsten. Rasch ging sie zu ihnen. «He, ihr zwei, was soll das?» Milo drehte sich zu ihr um. «Die halten wirklich ihre Messe ab», raunte er und wies mit dem Kinn auf die Chorhalle, durch die von der Pfalzkapelle her das Echo von Stimmen schallte. Die Augustinermönche sangen eine Hymne.
Marysa stieß Milo unsanft an und zupfte Jaromir am Ärmel seines Hemdes. «Kommt schon, ihr habt hier nichts verloren. Wir gehen nach Hause!»
Doch die beiden jungen Männer hörten nicht auf sie. Etwas im Inneren der Chorhalle hatte ihre Aufmerksamkeit gefesselt. «Da liegt der Unglücksbalken», flüsterte Jaromir und betrat die Halle. Dann blickte er über die Schulter zurück. «Niemand hier.» Er tippte mit der Fußspitze gegen den mächtigen Balken. «Sieh dir das an, Milo. Herrin, schaut doch! So ein riesiges Ding. Das hätte gut noch mehr Menschen erschlagen können.»
Marysa verdrehte ungehalten die Augen. «Kommt jetzt sofort da heraus, sage ich!», zischte sie. Dann stieß sie die Tür weiter auf und trat selbst ein. Erschrocken betrachtete sie den riesigen Haufen zersplitterten Holzes, aus dem einmal das umgestürzte Gerüst bestanden hatte. An der Wand klaffte nun eine breite Lücke. Schaudernd wandte sie sich ab und wollte schon wieder hinausgehen, als ihr Blick auf das obere Ende des Balkens fiel. Irritiert blieb sie stehen.
***
Christophorus kroch auf allen vieren zwischen der Wand und dem Trümmerhaufen herum, um den Fußboden zu mustern. Vorsichtig sammelte er einige winzige Partikel vom Boden auf, als er plötzlich leise Stimmen vernahm. Er hob den Kopf und spürte sein Herz einen unerwarteten Satz machen. Am Eingang der Bauarbeiter stand Marysa mit ihren beiden Knechten.
Langsam erhob er sich. Was hatte sie hier zu suchen? Etwas an dem Deckenbalken schien ihre Aufmerksamkeit erregt zu haben, denn sie beugte sich darüber. Dann richtete sie sich jedoch auf und ermahnte die Jungen, ihr nach draußen zu folgen – ohne Erfolg. Die Jungen hatten sich zu der Bretterwand geschlichen, die die Chorhalle von der Pfalzkapelle trennte, damit die Heilige Messe nicht durch den Anblick von Werkzeugen und Bauschutt gestört wurde. An dem schmalen Durchgang standen die beiden nun und lauschten gebannt der Liturgie auf der anderen Seite.
Marysa flüsterte etwas, und Christophorus konnte an ihren hochgezogenen Schultern sehen, dass sie sich ärgerte. Entschlossen klopfte er sich den Staub und Schmutz von seinem Habit und trat ihr entgegen.
***
Verärgert starrte Marysa zu ihren beiden Knechten hinüber. Einen solchen Ungehorsam konnte sie unmöglich dulden. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob es klug gewesen war, den Straßenjungen Milo in ihre Dienste zu nehmen. Er und Jaromir waren schon von klein auf eng befreundet gewesen. Sie hatte Milo und seiner Familie einen Gefallen tun wollen, außerdem war er ein kräftiger und geschickter junger Mann. Doch er hatte auch das unselige Talent, Jaromir zu allerlei Schabernack anzustiften und ihn von seiner Arbeit abzulenken.
Sie wollte gerade zu einem heftigen Tadel ansetzen, als sie hinter sich leise Schritte vernahm und kurz darauf eine Stimme, die sie seit anderthalb Jahren nicht mehr gehört hatte.
«Ihr solltet Eure Knechte härter an die Kandare nehmen, Frau Marysa, damit sie Euch nicht auf der Nase herumtanzen.»
Marysa schluckte und versuchte, den Sturm, der in ihrem Inneren ausgebrochen war, wieder unter Kontrolle zu bringen. Sehr langsam drehte sie sich um.
Christophorus hatte sich nicht verändert. Er war genauso hochgewachsen und breitschultrig wie in ihrer Erinnerung. Sein dichtes, fast schwarzes Haar war kurz geschnitten, die Tonsur sauber ausrasiert. Das kantige Gesicht mit den dunkelbraunen Augen war nicht unbedingt schön, doch es hatte eine Ausstrahlung, die sie früher schon einmal gefesselt
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