Der gläserne Schrein (German Edition)
einen Anschlag vermutet.»
«Ist der Gedanke so abwegig?», gab Marysa zurück.
Scheiffart schüttelte den Kopf. «Wir haben die Überreste des ersten Gerüsts selbstverständlich untersucht. Es gibt keinerlei Spuren einer Manipulation. Es hat sich also tatsächlich um einen tragischen Unfall gehandelt. Wie es aussieht, wollte sich das jemand zunutze machen und Meister Hyldeshagen auf ähnliche Weise umbringen. Als dies nicht glückte, hat man versucht, ihn zu vergiften.» Er hob die Hand, als er sah, dass Marysa zum Protest ansetzte. «Euer Herr Vater, so glaube ich, hat damit nicht das Geringste zu tun. Gewiss, es gab Unstimmigkeiten zwischen den beiden Goldschmieden, auch öffentliche Auseinandersetzungen, aber Meister Goldschläger ist kein Mann, der seinen Konkurrenten durch Mord aus dem Weg räumt. Unglücklicherweise sind mir bei den Nachforschungen die Hände gebunden. Da Hyldeshagen weder zur Domimmunität gehört noch dort wohnt, haben die Schöffen die Untersuchungen fast gänzlich an sich gerissen.» Kurz runzelte er die Stirn, dann fuhr er fort: «Doch deswegen habe ich Euch nicht hergebeten.» Er räusperte sich. «Zwar ist mir bewusst, dass ich Euch zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt behellige, aber wie gesagt, die Einweihung naht mit großen Schritten.» Bedeutungsvoll blickte er ihr in die Augen. «Ich habe einen Auftrag für Euch.»
«Für mich?» Marysa sah ihn erwartungsvoll an.
Scheiffart nickte. «Wir haben vor, einige sehr wertvolle Reliquien zu erwerben. Für diese benötigen wir natürlich diverse Reliquiare und auch ein paar größere Schreine. Ich weiß, die Zeit ist knapp. Es müssten bis zur Einweihung auch nicht alle Behältnisse fertig sein, sondern höchstens zwei oder drei. Wenn uns die Arbeiten aus Eurer Werkstatt zusagen, würden wir Euch einen weiteren Auftrag über mehrere große Reliquienschränke geben. Sicher habt Ihr die Nischen in der Chorhalle bemerkt, unter einigen Fenstern zum Beispiel. Dort, aber auch an anderer Stelle gedenken wir die Großschreine einzubauen.» Er lächelte, als er ihre überraschte Miene sah. «Einige der Stiftsherren waren nicht sehr angetan von der Aussicht, diesen Auftrag einer Werkstatt zu geben, die derzeit über keinen Meister verfügt. Aber ich gehe davon aus, dass sich dies in absehbarer Zeit ändern wird?» Auffordernd blickte er Marysa an.
In ihr sträubte sich sogleich alles, deshalb nickte sie nur vage.
«Ja, nun, seht Ihr, Eure Werkstatt erfreut sich eines ausgezeichneten Rufs. Deshalb habe ich Euch ausgesucht. Ihr müsst mir nicht sofort zusagen. Ich bitte Euch, diese Aufzeichnungen mitzunehmen.» Er griff nach mehreren Pergamenten, die auf dem Pult lagen, und reichte sie ihr. «Sie enthalten Beschreibungen der Schreine, die wir uns vorstellen», erklärte er. «Wenn Ihr so gut wäret, mir in den nächsten Tagen ein entsprechendes Angebot vorzulegen … Falls der Auftrag Euch nicht zusagt oder zu groß für Eure Werkstatt ist, würde ich dies auch akzeptieren und ihn einem anderen Schreinbauer aus der Zunft übertragen.»
Marysa überflog die Aufzeichnungen mit klopfendem Herzen. Dann hob sie den Kopf wieder. «Ich werde Euch ein Angebot überbringen lassen.» Sie stand auf und wandte sich zum Gehen.
Scheiffart erhob sich ebenfalls und eilte zur Tür, um sie ihr aufzuhalten. «Ich habe mich für Euch eingesetzt», sagte er, «denn ich schätze Euch als Geschäftspartnerin. Nun könnt Ihr beweisen, dass Ihr Eure Werkstatt meisterlich zu führen wisst.»
Marysa nickte. «Ich weiß Euer Vertrauen zu schätzen, Herr Scheiffart.» Sie war schon aus der Tür, als sie sich rasch noch einmal umdrehte. «Wann werden die Arbeiten in der Chorhalle wieder aufgenommen?»
«Am Montag», antwortete Scheiffart und verzog betrübt sein Gesicht mit den feisten Hängebacken. «Meister Hyldeshagen wird die Arbeiten weiterführen.»
«Es geht ihm also wieder gut?»
«Er scheint sich rasch erholt zu haben», bestätigte Scheiffart und setzte rasch hinzu: «Ihr müsst mir glauben, dass es mir lieber wäre, Euer Herr Vater würde …»
«Schon gut», unterbrach Marysa ihn. «Ihr könnt ja nichts dafür, dass er sich in dieser misslichen Lage befindet.» Plötzlich fiel ihr noch etwas ein. «Das Gerüst, das bei dem ersten Unfall zerstört wurde – wo befindet es sich jetzt?»
«Auf dem Holzlagerplatz hinter dem Friedhof. Warum wollt Ihr das wissen?»
«Darf ich es mir ansehen?»
Scheiffart hob die Schultern. «Sicher dürft Ihr das. Was
Weitere Kostenlose Bücher