Der gläserne Schrein (German Edition)
versprecht Ihr Euch davon? Ich sagte doch, dass wir es bereits untersucht haben. Es gab keinerlei Sägespuren oder Ähnliches.»
«Ich möchte mich gerne selbst davon überzeugen.»
***
Das ehemalige Holzgerüst war kaum mehr zu erkennen. Die Augustinermönche hatten es auf dem Holzplatz des Marienstifts zu einem wirren Haufen von Stangen und Brettern aufgeschichtet und wohl das zweite Gerüst, welches der schwere Balken zerstört hatte, dazugelegt. Vorsichtig, damit sie nicht stolperte, näherte Marysa sich dem Trümmerhaufen. Milo folgte ihr.
«Was habt Ihr vor, Herrin?», wollte er besorgt wissen. «Ihr müsst aufpassen, die Hölzer liegen ganz lose auf dem Haufen. Nicht dass sie ins Rutschen kommen und Euch verletzen!»
«Keine Sorge, Milo.» Marysa drückte ihm Scheiffarts Pergamente in die Hand und stakste mit gerafften Röcken um den Holzhaufen herum. Leider konnte sie im nachlassenden Licht des späten Nachmittags nicht genau erkennen, ob eine der Stangen Sägespuren aufwies. Alles, was sie sah, war geborstenes und gesplittertes Holz. Nachdenklich ging sie in die Hocke und betrachtete einen der Fußbalken des Gerüstes. Die einzelnen Stangen und Elemente waren mit Metallsplinten verbunden worden, von denen nun einige wie Stacheln aus den Hölzern ragten.
«Herrin, es wird dunkel. Wir sollten nach Hause gehen», drängte Milo. «Die Luft riecht nach Frost. Meine Mutter hat gesagt, dass es heute Nacht einen Sturm geben wird.»
Marysa hob kurz den Kopf. «Einen Sturm?» Sie blickte zweifelnd zum Himmel, der sich seit dem Mittag wolkenlos und klar über Aachen spannte. Die Sonne war inzwischen untergegangen.
«Ganz sicher», bestand Milo auf seiner Wettervorhersage. «Meine Mutter irrt sich nie. Deshalb habe ich vorhin auch die Regenrinne am Haus repariert.»
«Danke, Milo, das war eine gute Idee.» Marysa erhob sich. Dabei fiel ihr Blick auf ein armlanges Stück Holz, das fast senkrecht zwischen zwei Brettern klemmte. Neugierig griff sie danach und zog daran. Erst rührte es sich nicht, doch dann gaben die Bretter mit einem Knirschen nach, und Marysa hielt die Stange in der Hand.
Aufmerksam betrachtete sie sie, nun trat auch Milo näher. «Was wollt Ihr damit, Herrin?»
Marysa runzelte die Stirn. «Das weiß ich nicht, Milo. Ich werde sie mir zu Hause genauer ansehen.» Sie reichte Milo das Holz und nahm dafür die Papiere wieder an sich. «Lass uns gehen.»
***
«Es ist mir eine außerordentliche Freude, Euch bei uns begrüßen zu dürfen, Bruder Christophorus», sagte der Prior des Aachener Dominikanerkonvents und lächelte in die Runde. Er hatte Christophorus zum Abendessen ins Refektorium eingeladen, wo es heute gesalzenen Hering und deftiges Gerstenbrot zu essen gab.
Bruder Valentin, der trotz seines Alters noch mit einem wachen Geist und einem kräftigen Körper gesegnet war, deutete auf den hohen Gast, den der Konvent zurzeit beherbergte. «Sicher habt Ihr schon von Bruder Eldrad gehört? Oder kennt Ihr ihn vielleicht gar persönlich? Als Mitglieder der Inquisition dürftet Ihr Euch bereits begegnet sein, nicht wahr?»
Christophorus seufzte innerlich. «Leider hatte ich nicht das Vergnügen, Bruder Eldrad auf meinen Reisen zu begegnen. Da ich seit einiger Zeit nicht mehr Mitglied der Inquisition bin …»
«Ihr seid kein Inquisitor mehr?», rief Bruder Valentin bestürzt. «Wie konnte das geschehen? Ein fähiger Mann wie Ihr …»
Auch Bruder Eldrad, ein schlanker, hochgewachsener Mann unschätzbaren Alters, blickte aufmerksam zu Christophorus herüber, sagte jedoch nichts.
Christophorus faltete in frommer Geste die Hände. «Ich habe darum gebeten, mich aus den Diensten der Heiligen Römischen Inquisition zu entlassen. Eine …» Er überlegte sich seine Worte sehr genau. «Eine Gewissensfrage plagte mich, sodass ich mich nicht mehr in der Lage sah, mein Amt weiter auszuführen.» Unauffällig musterte er Bruder Eldrad, doch dieser verzog keine Miene, sondern lauschte seinen Ausführungen mit gleichbleibender Aufmerksamkeit. Er fuhr fort: «Meiner Bitte wurde vor einigen Monaten entsprochen, und so bin ich nunmehr ein einfacher Diener Gottes ohne richterlichen Auftrag.»
«Aber Ihr predigt noch und verkauft weiterhin Ablassbriefe?», hakte Bruder Valentin sichtlich betroffen nach.
«Solange meine Erlaubnis dazu gilt», bestätigte Christophorus. «Im nächsten Jahr müsste ich nach Rom reisen und sie verlängern lassen.»
Bruder Eldrad beugte sich ein wenig vor. «Welcher Art war
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