Der gläserne Schrein (German Edition)
sie zum Fenster und verschloss die Läden. Sie wollte genauso rasch wieder hinausgehen. Beim Anblick der offenen Ledertasche, die neben dem ordentlich gemachten Bett stand, hielt sie jedoch inne. Papierbögen ragten aus der Tasche heraus – etwa die Ablassbriefe, mit denen Bruder Christophorus handelte? Eine solche Urkunde hatte sie noch nie in Händen gehalten. Von plötzlicher Neugier erfasst, trat sie näher und zog mit spitzen Fingern einen der Bögen heraus. Aufmerksam studierte sie im Schein der Lampe die eng beschriebene Seite. Der Text war in Latein verfasst – natürlich. Aber einige Wörter stachen ihr ins Auge, und auch die Lücke in der vorletzten Zeile, in die wohl der Name des Sünders eingetragen wurde, bestätigten ihre Vermutung, dass dies eine der Ablassurkunden war.
Marysa rümpfte die Nase. Für welche Art von Sünde dieser Ablass wohl galt? Wie viele Münzen musste man Bruder Christophorus zahlen, um sich vom höllischen Fegefeuer freizukaufen? Sie schätzte den Ablasshandel nicht besonders, denn sie konnte sich nicht vorstellen, dass Gott den Menschen ihre Sünden gegen Geld vergab.
Zwar nahm auch sie den Menschen Geld ab und lieferte dafür nicht selten Reliquien, die nicht einmal in die Nähe eines wahren Heiligen gekommen waren. Ein Heiltum gab den Menschen jedoch Hoffnung und Zuversicht im Diesseits, vertröstete sie nicht auf die Ewigkeit. Außerdem musste sie ihre Kunden nicht erst mit grausigen Geschichten über den Zorn Gottes ermutigen, ein Haar der heiligen Elisabeth oder den Zahn des heiligen Thomas zu erwerben.
Sorgfältig schob sie den Ablassbrief zurück in die Tasche und blickte sich in der Kammer um. Über dem Fußende des Bettes hingen ein verschmutztes Habit und ein Skapulier, darunter stand ein Paar schlammverkrusteter Schuhe. Marysa würde Imela bitten, sie zu reinigen und die Kleidungsstücke bei nächster Gelegenheit mit in die Wäsche zu geben. Solange Bruder Christophorus in ihrem Haus wohnte, würde sie für sein Wohlergehen sorgen.
Zwar fühlte sie sich nicht wohl dabei, ihn weitere Nächte zu beherbergen, jedoch wusste sie um seinen scharfen Verstand und seinen festen Willen, ihr zu helfen. Ihre Familie brauchte jetzt jeden Beistand, den sie bekommen konnte. Marysa schauderte, als sie an Bardolf dachte, der jetzt allein in seiner teuer bezahlten Einzelzelle auf seiner Schlafmatte saß und auf die nächste Befragung wartete. Sie konnte nicht zulassen, dass ihr geliebter kleiner Bruder Éliás so früh seinen Vater verlor, noch dazu wegen einer falschen Anklage.
Ihre Mutter hielt sich bemerkenswert tapfer, doch Marysa wusste, dass sie Bardolfs Verlust nicht würde ertragen können. Seufzend ging sie zur Tür, drehte sich erneut um und ließ ihren Blick über die Kammer gleiten. Auf der Truhe neben dem Bett lag ein Gegenstand, der Marysas Aufmerksamkeit weckte. Sie trat mit der Öllampe ans Bett, um besser erkennen zu können, was dort lag. Verblüfft hielt sie für einen Moment die Luft an.
***
Leise stöhnend rieb sich Christophorus die Schläfen, während er den Kaxhof überquerte. Sein Schädel brummte von dem vielen Latein, das er den ganzen Abend gehört und auch selbst gesprochen hatte. Neue Erkenntnisse hatten sich ihm indes nicht erschlossen. Zumindest wusste er jetzt, dass sich die Dominikaner in der St.-Jakob-Straße kaum um die Vorgänge in der Chorhalle kümmerten und dass Bruder Eldrad in dieser Angelegenheit auch noch nicht von den Kanonikern angesprochen worden war.
Eine heftige Windböe fuhr Christophorus an und ließ seinen Mantel wehen. Rasch zog er ihn fester um den Leib, senkte den Kopf und beschleunigte seine Schritte. Es war unangenehm kalt geworden; am nächtlichen Himmel zog ein Unwetter auf. Christophorus hoffte, den Büchel zu erreichen, bevor es losbrach, wusste jedoch in dem Augenblick, als ihn die ersten Regentropfen trafen, dass er es nicht mehr schaffen würde. Der Wind steigerte sich innerhalb weniger Augenblicke zu Sturmstärke und heulte zwischen den Häuserfronten der Kreme. Aus den einzelnen Regentropfen wurde rasch ein Sturzbach, der Christophorus nach wenigen Atemzügen bis auf die Haut durchnässte. Entschlossen stemmte er sich gegen die Böen, die ihn nun angingen wie ein wildes Tier. Irgendwo schepperte etwas blechern, vermutlich ein Eimer, der irgendwo vergessen worden war.
Als Christophorus endlich Marysas Haus erreicht hatte, atmete er auf. Mit aller Kraft pochte er gegen die Haustür.
***
Bewundernd betrachtete
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