Der gläserne Schrein (German Edition)
Marysa das etwa handgroße Kruzifix mit dem leidenden Christus. Es war aus einem einzigen Stück Holz geschnitzt und weder bemalt noch vergoldet. Trotzdem strahlte das Gesicht Jesu eine berührende Lebendigkeit aus, die Marysa irritierte. Der ans Kreuz geschlagene Heiland sollte doch eigentlich eher tot wirken, hatte sie immer gedacht, oder wenigstens leidend. Dieser hier hatte seine Augen geöffnet und blickte den Betrachter beinahe herausfordernd an. Gleichzeitig ging eine große Milde von ihm aus, die sich Marysa nicht erklären konnte. Derjenige, der dieses Kreuz angefertigt hatte, war ein Meister seines Handwerks, so viel stand fest. Woher Bruder Christophorus es wohl hatte? Einen solchen Künstler könnte sie in ihrer Werkstatt gut brauchen, dann müsste sie sich um die Ausführung des Auftrags für das Marienstift keine Sorgen machen.
Marysa ließ ihre Fingerspitzen über das samtig glatt geschmirgelte Holz gleiten, dann legte sie das Kruzifix vorsichtig wieder zurück an seinen Platz. Er wurde Zeit, ihren Rundgang durch das Haus fortzusetzen. Der Sturm warf sich in heftigen Böen gegen die Hauswände, zerrte an den Dachschindeln und pfiff Unheil verkündend durch Ritzen. Regen trommelte gegen die Fensterläden und rauschte in den Dachrinnen.
Schaudernd verließ Marysa die Kammer ihres Gastes und trat an die Treppe. Ein so heftiges Unwetter hatte Aachen lange nicht mehr erlebt. Gerade als sie einen Fuß auf die Stiege gesetzt hatte, ertönte ein lautes Pochen an der Haustür.
Aus der Küche eilte Jaromir hinüber in die Werkstatt und kam gleich darauf mit dem triefend nassen Dominikaner zurück. Marysa eilte die Stiege hinab. «Um Gottes willen, was ist Euch geschehen?», rief sie. «Warum habt Ihr Euch nicht irgendwo untergestellt?» Ohne auf Christophorus’ Antwort zu warten, nahm sie ihm den nassen Mantel ab, während sie nach Imela rief. «Häng den Mantel beim Küchenfeuer auf», befahl sie dem Mädchen. «Und sag Balbina, dass sie Würzwein heiß machen soll!»
«Keinen Würzwein», wehrte Christophorus ab. «Macht Euch keine Mühe. Ich muss nur rasch …»
«Doch Würzwein!», unterbrach Marysa ihn. «Wollt Ihr vielleicht krank werden, Bruder Christophorus?» Entschlossen schob sie ihn in Richtung Treppe. «Und trockene Kleider», ordnete sie an. «Jaromir, gib unserem Gast eins von deinen Hemden und eine Bruoch. Deine Sachen müssten ihm passen.»
Der junge Knecht nickte nur und drängte sich an ihr vorbei nach oben, um das Gewünschte aus seiner Kammer zu holen.
«Nun geht schon hinauf!», sagte Marysa zu Christophorus. «Ich bringe Euch Tücher zum Abtrocknen.»
Christophorus gehorchte. So energisch hatte er Marysa noch nicht erlebt, doch ihm war klar, dass sie keinen Widerspruch zulassen würde. Recht hatte sie ja. Es wurde höchste Zeit, aus den nassen Sachen herauszukommen.
Marysa folgte ihm ins Obergeschoss und holte zwei große Leinentücher aus der Truhe in ihrer Kammer. Aus Christophorus’ Schlafraum drang Jaromirs Stimme, im nächsten Augenblick trat der Knecht auf den schmalen Flur.
«Geh hinunter und sieh nach, wie weit der Würzwein ist.» Marysa ging nun selbst zu Christophorus’ Kammer, und da die Tür einen Spalt offen stand, trat sie, ohne anzuklopfen, ein.
Sie hielt unwillkürlich die Luft an, als sie ihn erblickte.
Christophorus hatte sich bereits Skapulier und Habit ausgezogen. Er stand nun mit nacktem Oberkörper und mit der durchnässten Bruoch bekleidet mitten im Raum. Marysa starrte ihn an. Sein sehniger Körper mit den breiten, muskulösen Schultern löste in ihrem Leib ein ungekanntes, zerrendes Gefühl aus. Ihr Herzschlag beschleunigte sich und ließ ihr Blut kribbelnd durch die Adern rauschen. Rasch wandte sie die Augen ab und streckte ihm stattdessen die Tücher hin.
«Danke», sagte Christophorus, der nicht im Mindesten beschämt zu sein schien. Statt sich abzuwenden, trat er einen Schritt auf Marysa zu und nahm ihr die Tücher ruhig aus den Händen. Dabei berührten sich ihre Finger kurz – Marysa zuckte zurück, als habe sie sich verbrannt.
Christophorus schmunzelte, als er Marysas Reaktion bemerkte. Für eine Frau, die in einem Haushalt voller Mannsbilder lebte und schon einmal verheiratet gewesen war, schien sie ungewöhnlich verkrampft zu sein. Da sie seine Kammer nicht sofort verließ, zog er seelenruhig die nasse Bruoch aus, tauschte sie gegen die trockene, die ihm der Knecht gebracht hatte. «Danke», sagte er noch einmal, um die verlegene Stille
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