Der gläserne Schrein (German Edition)
niederzukämpfen, der sich ihrer bemächtigen wollte. Es war nichts geschehen, redete sie sich ein. Sie war nur dumm genug gewesen, diesen unsäglichen Gort Bart mitten in der Nacht in ihrem Hof zu empfangen. Wenn er es herumtratschte, würde er ihrem guten Ruf großen Schaden zufügen. Wie unbedacht sie gehandelt hatte! Einem Mann, der von einem heimlichen Stelldichein erzählte, glaubte man sofort, einer Frau, die Selbiges abstritt, für gewöhnlich nie.
Marysas Kehle schnürte sich zu. Mit einem krampfhaften Schluchzen schlug sie die Hände vors Gesicht. Sie war Gort auf den Leim gegangen. Und wie leicht! Ihm oder Hartwig, denn es sähe ihrem Vetter ähnlich, eine solche Posse zu inszenieren, um sie gefügig zu machen. Sie hätte sich selbst ohrfeigen mögen. Stattdessen traten ihr Tränen in die Augen, Tränen aus Zorn auf sich selbst, weil sie so unbeschreiblich dumm gewesen war, und aus Hilflosigkeit, weil es jetzt nur noch einen Weg gab, das Schlimmste abzuwenden: Sie würde gleich morgen früh Leynhards Antrag annehmen.
***
Mit hängenden Schultern lief Christophorus durch die stillen Gassen Aachens. Nie hätte er gedacht, dass es Estella so leicht fallen würde, ihn fortzuschicken. Nein, es war nicht einfach für sie gewesen, korrigierte er sich. Sie hatte es zutiefst bedauert. Er war immer davon ausgegangen, dass die kleine Akrobatin in ihn verliebt war. Vielleicht war sie das sogar gewesen, nur offenbar nicht so stark, wie er es sich eingebildet hatte. Noch weniger hatte er damit gerechnet, dass sie ihn so leicht durchschaut hatte. Nie war auch nur die kleinste Bemerkung gefallen, nie hatte sie angedeutet, dass sie die Wahrheit kannte. Merkwürdigerweise fühlte Christophorus sich von ihr in gewisser Weise hintergangen, obwohl er selbst es ja war, der seit Jahren jemanden spielte, der er gar nicht war.
Estellas klare Worte hatten ihn erschüttert. Obwohl er sie nie geliebt hatte, fühlte er sich nun schuldig. Gewiss, auch Marysa liebte er nicht, da hatte sie sich geirrt, dennoch hatte ausgerechnet der Gedanke an sie dazu geführt, dass die Verbindung zu Estella zerbrochen war.
Als er den Büchel erreichte, wurden Christophorus’ Schritte noch schleppender. Er wollte schon kehrtmachen und sich für die Nacht einen anderen Schlafplatz suchen, als sein Blick auf das offen stehende Hoftor fiel. Er hatte eine Fackel bei sich, mit der er nun argwöhnisch in Richtung Tor leuchtete. Waren da Stimmen zu hören? Vorsichtig trat er näher und verbarg die Fackel hinter dem Torflügel, während er lauschte. Je mehr er von dem Gespräch mitbekam, desto wütender wurde er. Er wagte nicht, in den Hof zu sehen, um nicht bemerkt zu werden, deshalb zuckte er zusammen, als er ein lautes Klatschen vernahm. Gorts nächste Worte ließen ihn mit den Zähnen knirschen. Als er Schritte näher kommen hörte, wich er rasch in den Schatten des Torflügels zurück und hätte sich beinahe an der Fackel verbrannt, da er sie hinter seinem Rücken zu verstecken versuchte. Dies wäre gar nicht nötig gewesen. Gort schritt, ohne sich umzusehen, nach links, den Büchel hinauf.
Christophorus’ erster Impuls war, Gort nachzugehen und ihn zur Rede zu stellen. Doch als er Marysas leises Schluchzen vernahm, krümmte sich etwas in ihm schmerzhaft zusammen. Er stieß den Torflügel weiter auf und betrat den Hof.
***
Als Marysa Schritte auf sich zukommen hörte, schrak sie hoch und wappnete sich gegen ein erneutes Zusammentreffen mit Gort. Dann erkannte sie jedoch, dass nicht er es war, der nun vor ihr stand, sondern Bruder Christophorus. Entsetzt wich sie einen Schritt zurück, sodass sie beinahe über den Eimer gestolpert wäre.
Geistesgegenwärtig griff Christophorus nach ihrem Arm und hielt sie fest. Im Schein seiner Fackel blickte er ihr wütend ins Gesicht. «Ihr seid die Dummheit in Person, Frau Marysa. Würdet Ihr mir verraten, was Euch dazu gebracht hat, Euch mitten in der Nacht mit diesem … Wicht zu treffen? Oder habt Ihr ihn gar eingeladen?» Seine Stimme wurde immer schneidender, obgleich ihn ihre vor Schreck verzerrte Miene tief schmerzte.
Marysa rang nach Atem. Mit dem Rest Entschlossenheit, der noch in ihr steckte, trat sie auf Christophorus zu. «Wie könnt Ihr nur glauben, dass ich jemanden wie Gort des Nachts zu mir einlade? Er stand plötzlich vor meinem Fenster und …» Sie merkte selbst, dass das, was sie hatte sagen wollen, ihn nur in seinem Urteil über sie bestärken würde. Dennoch sprach sie weiter. «Er
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