Der gläserne Schrein (German Edition)
der Chorhalle. Es muss ja niemand erfahren.»
«Ihr würdet … ich meine …» Marysa schüttelte den Kopf. «Wo habt Ihr so zu schnitzen gelernt, Bruder Christophorus?»
Er hob die Schultern und lächelte wehmütig. «In einem anderen Leben, das sagte ich doch.»
Marysa lockerte den Griff um die Figur und drehte sie zwischen den Fingern. «Was soll ich sagen, wenn mich jemand fragt, woher die Schnitzereien kommen? Besonders Heyn oder Leynhard werden das wissen wollen.»
«Sagt ihnen, sie stammen aus der Werkstatt eines Tischlers und Truhenbauers in Frankfurt.»
«Frankfurt?» Nun begriff Marysa gar nichts mehr. «Ich kenne niemanden in Frankfurt.»
«Jetzt schon», widersprach Christophorus. «Sollte wirklich jemand fragen, nennt ihm den Namen Beatus Schreinemaker.»
«Wer ist das?»
Christophorus drehte sich wieder zum Fenster. «Mein Vater.»
***
Marysa hatte Christophorus’ Vorschlag nur unter großen Vorbehalten zugestimmt. Aus dem wenigen, was der Dominikaner erzählt hatte, schloss sie, dass er einst, noch vor seiner Zeit im Kloster, in der Werkstatt seiner Familie das Schreinern und Schnitzen gelernt haben musste. Auch wenn sie sich überaus unwohl dabei fühlte, war ihr klar, dass es dumm gewesen wäre, seine Hilfe abzulehnen. Das Kreuz hatte sie schon beeindruckt, doch die Figur, die ihren Bruder abbildete, war ganz sicher die schönste Schnitzarbeit, die sie je gesehen hatte.
Sie wartete, bis ihre Gesellen eine Pause machten und sich zu Balbina in die Küche begaben, dann ging sie mit Christophorus in den kleinen Lagerraum hinter der Werkstatt. Dort ließ sie ihn sich einige Holzstücke und Schnitzmesser aussuchen. Anschließend zeigte sie ihm in ihrem Kontor die Pläne für die Schreine, die sie von Scheiffart erhalten hatte. Christophorus studierte sie eingehend, danach fragte er unvermittelt: «Wann gedenkt Ihr, Meister Goldschläger wieder zu besuchen?»
Sie blickte ihn überrascht an. «Das weiß ich noch nicht. Bald, denn er bedarf unserer steten Unterstützung.» Ihre Miene verzog sich gequält. «Ich wage gar nicht daran zu denken, wie es ihm nach der Befragung gehen wird.»
Christophorus trat zwei Schritte auf sie zu. «Nicht immer wird gleich der erste Grad der Tortur angewendet, Frau Marysa. Wenn Ihr geht, würde es Euch etwas ausmachen, mir Bescheid zu geben? Ich möchte Euch gerne begleiten.»
Marysa nickte. «Sicher – warum nicht.» Sie hielt inne. «Habt Ihr etwas in Erfahrung gebracht?»
Christophorus ging zu ihrem Schreibpult, auf dem er die Holzstücke und das Werkzeug abgelegt hatte. «So könnte man sagen.» Kurz berichtete er, was er von Amalrich erfahren hatte.
«Ludwig ist hinter Euch hergeschlichen?» Marysa kräuselte nachdenklich die Lippen. «Aus welchem Grund sollte er das tun?»
«Könnte er auf Geheiß seines Meisters gehandelt haben?», schlug Christophorus vor.
«Aber was sollte Hyldeshagen von Euch wollen?»
«Vielleicht will er herausfinden, was wir wissen.»
Marysas Augen weiteten sich. «Er könnte uns einfach fragen.»
«Nachdem er Euren Stiefvater mit seiner Aussage so schwer belastet hat, dass er ins Gefängnis kam?» Christophorus schüttelte entschieden den Kopf. «Ihm dürfte klar sein, dass er hier nicht willkommen ist. Aber er könnte auch einen anderen Beweggrund haben.»
«Und der wäre?» Marysa ahnte bereits, worauf Christophorus hinauswollte, und er erkannte es an ihrem Gesichtsausdruck. Deshalb antwortete er nicht.
Marysa verließ mit schnellen Schritten das Kontor. Kurze Zeit später kam sie mit ihrem und Christophorus’ Mantel zurück. «Kommt», sagte sie bestimmt. «Wir gehen zum Grashaus.»
***
Bardolf hatte sich eine schlimme Erkältung zugezogen. Hustend und mit triefender Nase hockte er auf seiner ungemütlichen Schlafstatt, die Wolldecke, die Jolánda ihm gebracht hatte, fest um die Schultern geschlungen. Man hatte ihm zwar gestattet, weiterhin die Mahlzeiten zu sich zu nehmen, die seine Familie ihm brachte, doch der Besuch des Arztes war ihm verweigert worden, weil er am Mittag befragt werden sollte.
Noch immer brummte ihm der Schädel von den vielen Antworten, die er zu geben gezwungen gewesen war. Obgleich die Schöffen nicht einmal besonders unfreundlich gewesen waren, hatte er zumindest den Hauch eines Eindrucks davon gewonnen, wie es seinerzeit Marysa ergangen sein musste, als sie in der Acht eingesperrt gewesen und vom Gericht befragt worden war. Er versuchte, ein wenig zu schlafen, doch sobald er sich
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