Der gläserne Schrein (German Edition)
Männer, die am Abend des Giftanschlags bei Hyldeshagen zu Gast gewesen waren, ergebnislos geblieben. Deshalb wurden von einigen wenigen Schöffen nun Forderungen laut, man möge den eingesperrten Goldschmied erneut befragen und diesmal ein wenig mehr Druck ausüben, damit er sich seiner Untaten erinnere.
Marysa wusste, was das bedeutete: Der erste Grad der Tortur sollte angewendet werden. Bardolfs Glück war paradoxerweise, dass er zu stark erkältet war. Ein Delinquent musste ordentlich bei Kräften sein, wenn er einer peinlichen Befragung unterzogen werden sollte. War er es nicht, konnten die Ergebnisse derselben angezweifelt werden. Aus diesem Grund ließ man wenigstens endlich den Badermeister, Ultrich Langhäuser, zu Bardolf, der ihn geschröpft und mit Umschlägen aus beißend riechenden Kräutern versorgt hatte.
Die Sonne war bereits seit über einer Stunde untergegangen, Marysa saß grübelnd bei Balbina in der Küche, als Milo ihr einen Besucher meldete. Neugierig stand sie auf und folgte ihrem Knecht ins Kontor, wo sie Dederich van Weyms vorfand, der gerade voller Interesse eines der Blütenornamente bewunderte, die Christophorus am Abend zuvor für den Deckel eines truhenförmigen Schreins geschnitzt hatte. Als er Marysa sah, lächelte er erfreut, wenn auch sichtlich verlegen.
«Eine wunderschöne Arbeit, Frau Marysa», sagte er statt einer Begrüßung. «Da muss ein wahrer Künstler am Werk sein. Sagt, wer ist der Mann, der Euch diese Schnitzereien anfertigt, und woher kommt er? Aus Aachen kann er unmöglich stammen, denn dann hätte man schon von seiner Kunstfertigkeit gehört.»
«Diese Arbeiten …» Marysa zögerte, denn noch immer war ihr nicht wohl bei dem Abkommen, dass sie mit dem Dominikaner geschlossen hatte. «Ein Tischlergeselle aus Frankfurt fertigt sie uns an.»
«Was, aus Frankfurt? Ihr habt einen Handwerker von so weit her kommen lassen?» Erstaunt betrachtete van Weyms die Schnitzerei noch einmal. «Nun, in Anbetracht der Wichtigkeit dieser Schreine sollten wir es natürlich befürworten, dass ihr jemanden gefunden habt, der solch außergewöhnliche Qualität liefert. Obschon ich hoffe, dies wird Euren Preis nicht unmäßig in die Höhe treiben.» Er lächelte etwas gezwungen. «Ich muss Euch nämlich eine für uns unangenehme Mitteilung machen.»
Aufmerksam blickte Marysa ihn an. «Worum geht es, Herr van Weyms? Hat sich an der Entscheidung des Stiftskapitels etwas geändert?»
«Nein, das nicht.» Der junge Kanoniker seufzte leise. «Es ist uns äußerst unangenehm, aber wir müssen einen Teil des Auftrags auf später verschieben. Bis zur Einweihung der Chorhalle können wir Euch lediglich einen Schrein abnehmen, die weiteren erst binnen Jahresfrist.»
Erstaunt hob Marysa die Augenbrauen. «Ich dachte, dem Kapitel sei es so außerordentlich wichtig, die Schreine bereits zur Einweihungsfeier präsentieren zu können?»
«Das ist es auch – oder war es», verbesserte er sich rasch. «Aber es sind gewisse Umstände eingetreten, die uns zwingen, unsere Ausgaben zu senken.»
«Gewisse Umstände?»
Er nickte betrübt. «Ein erneutes Missgeschick in der Chorhalle.»
«Schon wieder ein Unfall?» Erschrocken starrte sie ihn an. Van Weyms schüttelte den Kopf. «O nein, das glücklicherweise nicht. Niemand wurde verletzt. Aber nach dem Einsetzen der ersten Fenster haben sich im Glas Sprünge gebildet, sodass einige Scheiben zerbrochen sind. Ihr könnt Euch sicher vorstellen, welches Ärgernis dies für uns bedeutet. Diese Glasfenster sind außerordentlich wertvoll, ein Ersatz kostet uns nicht nur viel Zeit, sondern auch größere Summen, die eigentlich für andere Dinge vorgesehen waren.»
«Aber kann man die Glashütte, aus der die Fenster stammen, nicht zur Verantwortung ziehen?», wunderte Marysa sich. «Oder den Handwerker, der sie eingebaut hat?»
Der Kanoniker nickte. «Sicher werden wir das tun, doch alle Glaser und Handwerker, die mit unseren Kirchenfenstern zu tun haben, sind Geistliche, deshalb … Aber das sind Dinge, die Euch nicht betreffen, Frau Marysa. Ganz sicher wird das Marienstift die Ursache der fehlerhaften Glasscheiben finden und damit auch denjenigen, der dafür verantwortlich ist. Ich hoffe, Ihr seid nicht ungehalten über die Verzögerung, die sich für Euren Auftrag ergibt.»
Marysa schüttelte den Kopf und lächelte dem Kanoniker beruhigend zu. «Keine Sorge, Herr van Weyms. Im Grunde bedeutet es für eine kleine Werkstatt wie die unsre sogar einen
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