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Der gläserne Schrein (German Edition)

Der gläserne Schrein (German Edition)

Titel: Der gläserne Schrein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Schier
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Dominikaner selbst. Er legte mit dem Schnitzmesser eine Kunstfertigkeit an den Tag, die sie aufs höchste erstaunte, und sie erwog bereits, Erkundigungen nach diesem Beatus Schreinemaker aus Frankfurt einzuziehen, den er als seinen Vater ausgegeben hatte. Marysa kannte zwar niemanden in Frankfurt, hatte aber Kontakte zu Kaufleuten, die regelmäßig die Messe dort besuchten. Einen von ihnen könnte sie bitten, diskret nachzuforschen, ob es diesen Tischler und Truhenbauer wirklich gab und, falls ja, ob jemand etwas über dessen Familie wusste.
    Ganz gleich, wo Bruder Christophorus seine Ausbildung erhalten hatte, es stand fest, dass er eine solche genossen haben musste. Natürlich war es auch möglich, dass er das Schnitzen im Kloster gelernt hatte, doch warum gab er dann nicht dieses als Referenz an, sondern seinen Vater? Obwohl sie sehr genau spürte, dass es an der Zeit war, diesen Ungereimtheiten auf den Grund zu gehen, scheute sie davor zurück, Christophorus einfach danach zu fragen. Zu sehr rieb sie bereits ein kurzer Blick von ihm auf. Der Gefahr eines vertraulichen Gesprächs mit ihm wollte sie nach wie vor lieber aus dem Weg gehen. Außerdem war sie sich nicht sicher, ob er ihr auf ihre Fragen überhaupt eine Antwort geben würde und ob diese dann der Wahrheit entsprach.
    Sie schnürte ihre Schuhe auf und schlüpfte heraus. Da es trotz der glühenden Kohle in dem runden Becken empfindlich kühl in ihrer Kammer war, legte sie sich dicke wollene Strümpfe bereit, bevor sie sich aus ihrem Kleid und ihrer Unterwäsche schälte. Bibbernd zog sie ein dickes, knöchellanges Leinenhemd und die Strümpfe über und wickelte sich in ihren warmen Hausmantel. Erst danach löste sie die Haarnadeln, die ihre Haube festhielten, und schüttelte ihre Locken aus, die ihr bis weit über den Rücken fielen. Sie überlegte, ob sie sie für die Nacht wieder zu einem lockeren Zopf flechten sollte, unterließ es dann aber, da sie mit offenem Haar besser schlief.
    Müde war sie noch nicht, und ihre Gedanken drehten sich auch viel zu intensiv um die Ereignisse, die Bardolf ins Gefängnis gebracht hatten. Je mehr sie darüber grübelte, desto verworrener wurden ihre Gedanken – zu einem Ergebnis kam sie so allerdings nicht. Um sich abzulenken, begann sie, die umherliegenden Gegenstände einzusammeln und in ihre Truhe zu legen. Dabei stellte sie fest, dass darin mittlerweile ein ziemliches Durcheinander herrschte. Wann hatte sie die Truhe zum letzten Mal aufgeräumt? Sie konnte sich nicht erinnern.
    Seufzend klappte sie den Deckel ganz auf, sodass er an der Wand lehnte, räumte ihre Habseligkeiten aus und sortierte sie auf dem Bett zu mehreren Stapeln. Dabei brachte sie nicht nur Gürtel und Hauben zutage, sondern auch einen Samtbeutel, der einen äußerst kostbaren Rosenkranz aus Silber und Flussperlen enthielt – ein Verlobungsgeschenk ihres verstorbenen Gemahls –, einen kleinen polierten Handspiegel und einiges an Schmuck und Geschmeide, das sie schon länger nicht getragen hatte. Zuunterst lagen ein flaches Büchlein – eine Sammlung von Liedern bekannter Troubadoure – und eine lederne Mappe mit alten Briefen, von denen sie sich nicht trennen mochte. Einige stammten von ihrem Großvater, andere von ihrem Vater oder ihrem Bruder.
    Ordentlich legte sie alle Gegenstände wieder zurück in die Truhe, behielt aber eine aus zartem Samt gefertigte dunkelgrüne Haube und eine silberne Gürtelschnalle mit Rosenmuster zurück, die sie am nächsten Tag zu tragen gedachte. Die Mappe mit den Briefen wollte sie zum Schluss ebenfalls zurück in die Truhe legen. Doch die wachgerufene Erinnerung verursachte ihr eine Gänsehaut und ließ sie innehalten. Vorsichtig schlug sie die Mappe auf und blätterte zögernd durch die Briefe, die sie schon so lange darin aufbewahrte. Plötzlich erblickte sie ihn – den einzigen Brief, der noch ungeöffnet war, den sie vor anderthalb Jahren in die Mappe gesteckt und dann dort vergessen hatte. Vergessen wollte, berichtigte sie sich in Gedanken. Es war ihr tatsächlich geglückt.
    Ratlos sah sie auf das Siegel ihres Bruders. Ihre Finger zuckten und wollten es schon aufbrechen, aber etwas ließ sie zögern. Bruder Christophorus hatte ihr diesen Brief damals übergeben, als er ihr und ihrer Mutter von Aldos Tod berichtet hatte. Sie hatte ihn nicht sofort gelesen, weil der Schmerz über den Verlust ihres Bruders noch zu frisch gewesen war. Inzwischen konnte sie mit weit weniger Trauer im Herzen an ihn denken.

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