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Der gläserne Schrein (German Edition)

Der gläserne Schrein (German Edition)

Titel: Der gläserne Schrein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Schier
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Es sprach also nichts dagegen, den Brief endlich zu öffnen. Doch nun zauderte sie, nach so langer Zeit die Abschiedsworte ihres Bruders zu lesen. Ganz gleich, was er ihr kurz vor seinem Tod noch hatte mitteilen wollen – es wäre heute längst nicht mehr von Belang. Jedenfalls nicht, wenn er ihr in diesem Brief Wünsche oder Anordnungen für ihre Zukunft mitgeteilt hatte. Er war so lange fort gewesen, dass er nicht einmal gewusst hatte, dass sie Reinold Markwardt geheiratet hatte, um nach dem Tod ihres Vaters die Schreinwerkstatt vor dem Zugriff durch Hartwig zu schützen. Traurig betrachtete sie das Siegel und spürte, wie sich ihr Herz verkrampfte, weil sie Aldo nun unerwartet heftig vermisste. Er war sieben Jahre älter als sie gewesen, trotzdem hatten sie immer ein sehr enges und vertrautes Verhältnis zueinander gehabt. Deshalb war es auch nur sie gewesen, der er von seiner heimlichen Neigung zu Männern erzählt hatte. Verurteilt hatte sie ihn dafür nicht, dazu hatte sie ihn zu sehr geliebt. Das Wissen, dass es letztendlich genau diese widernatürliche Veranlagung gewesen war, die ihn ins Grab brachte, hatte sie in der ersten Zeit nach seinem Tod oft in sinnlose Wut versetzt.
    Sie holte tief Luft und brach dann das Siegel auf. Im gleichen Moment klopfte jemand leise an ihre Tür. «Frau Marysa?», hörte sie Bruder Christophorus raunen. «Seid Ihr noch wach?»
    Hastig und mit klopfendem Herzen legte sie den Brief beiseite und stand auf. Vor ihrer Tür blieb sie stehen. «Was wollt Ihr?», flüsterte sie verärgert.
    «Mir ist etwas eingefallen», raunte er zurück. «Es könnte wichtig sein.»
    Zögernd schob Marysa den Riegel zurück, den sie sich inzwischen angewöhnt hatte, nachts vorzulegen. Sie öffnete die Tür einen Spalt weit. «Was ist Euch eingefallen?», wollte sie wissen. «Hat das nicht Zeit bis morgen?»
    «Die zerbrochenen Glasfenster in der Chorhalle», antwortete er und blickte sich vorsichtig um, ob auch niemand von ihrem Gespräch wach wurde.
    Marysa verstand, was er mit dieser Geste ausdrücken wollte. Widerwillig trat sie einen Schritt zurück, um ihn einzulassen. Hinter ihm schloss sie die Tür wieder sorgfältig ab, dann blickte sie ihn argwöhnisch an. «Es ist äußerst ungehörig von Euch, mich zu nötigen, Euch mitten in der Nacht in meine Kammer zu lassen, Bruder Christophorus», zischte sie. «Sagt schnell, was Euch eingefallen ist, und dann macht, dass Ihr wieder hinauskommt!»
    Das hatte Christophorus durchaus vorgehabt, doch als er Marysa nun vor sich stehen sah, mit offenem Haar und nur in ein langes weißes Hemd und ihren Hausmantel gekleidet, verschlug es ihm für einen Moment die Sprache. Er musste zweimal schlucken, um den Knoten, der sich in seiner Kehle gebildet hatte, loszuwerden. Damit er nicht auch noch in unschicklicher Weise auf Marysas rötlich schimmernde Locken und ihre zarte weiße Haut starrte, von der er eindeutig zu viel zu Gesicht bekam, da sie ihren Hausmantel nicht verschnürt hatte, fixierte er angestrengt einen Punkt neben ihrem Kopf.
    «Mir …» Er räusperte sich, weil ihm seine Stimme nicht recht gehorchte. «Mir ist da eine Sache durch den Kopf gegangen, nachdem Ihr beim Abendessen von den zersprungenen Glasfenstern in der Chorhalle erzählt habt.» Da sie ihn weiterhin nur schweigend und auffordernd anblickte, fuhr er rasch fort: «Findet Ihr es nicht auch einen merkwürdigen Zufall, dass sich plötzlich Unfälle und Missgeschicke auf der Baustelle häufen?»
    Marysa runzelte die Stirn. «Nun, wir haben ja bereits vermutet, dass irgendwer – sei es Hyldeshagen oder jemand anderer – die Arbeiten der Goldschmiede sabotiert. Möglicherweise ein Handwerker von außerhalb, der sich auf diese Weise die teuren Vergoldungsarbeiten sichern will.»
    «Aber warum wurden die Glasfenster zerstört?», fragte Christophorus und stellte den Halter mit der schon weit heruntergebrannten Kerze, den er aus seiner Kammer mitgebracht hatte, auf das schmale Bord neben der Tür. «Für die Arbeit der Goldschmiede sind sie unerheblich.»
    Nachdenklich legt Marysa einen Finger an ihre Lippen. «Also vielleicht doch ein Zufall? Glasfenster sind sehr empfindlich. Wenn die Glashütte bei der Herstellung oder der Glaser beim Einbau einen Fehler gemacht hat?»
    «Nein.» Christophorus schüttelte den Kopf. «Nicht bei einem Bauwerk wie der Chorhalle des Aachener Doms. Ganz sicher würde der Meister einer jeden Glashütte mit seinem Leben dafür bürgen, dass ausschließlich

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