Der gläserne Schrein (German Edition)
aufmerksame Herbergswirtin ihm hingestellt hatte. Obwohl das Wasser im Krug eiskalt war, tauchte er eines der bereitliegenden Leinentücher hinein, um sein Gesicht und seinen Oberkörper damit waschen zu können. Die Kälte störte ihn nicht, auf seinen Wanderschaften hatte er sich daran gewöhnt. Leider hatte die Prozedur nicht die gewünschte Wirkung, nämlich seine Gedanken zu klären.
Es war noch früher Abend – zu früh, um schon schlafen zu gehen. Flüchtig dachte er daran, zu Marysa hinüberzugehen, um noch einmal zu versuchen, mit ihr zu besprechen, was am Vortag zwischen ihnen vorgefallen war. Schließlich entschied er sich dagegen. Sie war ihm den ganzen Tag sehr distanziert begegnet, und – das musste er sich eingestehen – er konnte nicht ausschließen, dass Ähnliches erneut geschehen würde, wenn er sie in ihrer Kammer aufsuchen würde. Schon der Gedanke daran ließ ihn ein schmerzliches Ziehen in den Lenden verspüren.
Christophorus streckte sich auf der Matratze aus und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Aldos Forderung ging ihm nicht aus dem Sinn. War das wirklich die Lösung für diese verfahrene Situation? Musste er sich nur wieder in den verwandeln, als der er geboren worden war? Wollte er das überhaupt? Wie würde Marysa auf die Wahrheit reagieren?
Marysas Gesicht trat vor sein inneres Auge; die Mischung aus Zartheit und Strenge, die ihn vom ersten Moment an verwirrt hatte und die sich je nach Stimmung bei ihr mehr in die eine oder andere Richtung verstärken konnte. Er schloss die Augen. Nach einer Weile öffnete er sie wieder – ihr Bild blieb bestehen und machte ihm eines sehr deutlich: Er konnte nicht mehr zurück.
***
«Schwesterchen» , begann der Brief ohne eine formale Einleitung.
Marysa starrte auf dieses eine Wort und spürte, wie Tränen in ihre Augen stiegen. Hastig wischte sie sie fort und zwang sich, weiterzulesen.
Schwesterchen,
wenn du diese Zeilen in Händen hältst, bin ich schon lange nicht mehr. Ich werde dich nicht bitten, nicht zu weinen, denn ich habe es selbst bereits getan, als mir bewusst wurde, dass ich dich, Mutter und auch Vater niemals wiedersehen werde. Die Nachricht von Vaters Tod schmerzt mich, denn nun, da ich weiß, dass ich nicht da sein werde, um für euch zu sorgen, liegt eure Zukunft gänzlich im Ungewissen. Ich weiß, dass Vater für dein und Mutters Wohl testamentarisch gesorgt hat, dennoch wird Hartwig nicht zögern, seine Finger nach unserem Eigentum auszustrecken. Trotzdem bitte ich dich, Marysa: Tu nichts Unüberlegtes. Hartwig wird nicht der einzige Mann sein, den unsere Werkstatt und der Reliquienhandel reizen.
Marysa hielt inne und wischte sich erneut über ihre Lider. Sie hatte tatsächlich unüberlegt gehandelt, als sie Reinold Markwardts Antrag angenommen hatte. Sie war von seinen Versprechungen geblendet gewesen und hatte zu spät gemerkt, dass sie damit einen großen Fehler begangen hatte. Zitternd atmete sie ein und las weiter.
Lass dich nicht von schönen Worten beeindrucken. Solltest du dich aber entschließen, einen Mann zu ehelichen (und das wirst du über kurz oder lang ja müssen) , so wähle jemanden, der dir liegt und der seinerseits deine Talente zu schätzen weiß.
Marysa schluchzte auf und verkrampfte ihre Finger, sodass sie den Brief an den Rändern zerknitterte. Fahrig strich sie ihn wieder glatt.
Noch eine weitere Bitte habe ich an dich, liebes Schwesterchen. Bitte nimm den Mann, der dir diesen Brief zusammen mit meinen Habseligkeiten überbringt und der sich dir als Bruder Christophorus vorstellen wird, mit Herzlichkeit in unser Haus auf. Du magst erstaunt darüber sein, doch er ist mir auf der langen Reise nach Santiago de Compostela ein guter Freund geworden. Der beste Freund, Marysa, denn er kennt mein Geheimnis und hat mich nicht dafür verurteilt. Im Gegenteil: Er hat mir beigestanden und mich mehr als einmal davor bewahrt, entdeckt zu werden.
Ein Dominikaner?, wirst du jetzt fragen. Ich sehe die Zweifel und das Entsetzen auf deinem Gesicht geradezu vor mir. Bitte glaube mir, dass du ihm vertrauen kannst. Er hat mir sein Wort gegeben, sich um dich und Mutter zu kümmern, dafür zu sorgen, dass Hartwig sich nicht nehmen kann, was euch gehört. Ich weiß, er wird sein Wort halten, denn er ist ein Ehrenmann. Er wird dir auch Näheres über die Umstände meines Todes berichten, wenn du ihn danach fragst. Ich habe ihm erzählt, wie nahe wir einander immer standen und dass nur du um mein
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