Der gläserne Schrein (German Edition)
Geheimnis weißt.
Wieder ließ Marysa den Brief sinken und starrte ins Leere. Ein Ehrenmann? Ja, das war Bruder Christophorus wohl. Er hatte Wort gehalten, das konnte sie nicht leugnen. Mit Herzlichkeit hatte sie ihn damals allerdings ganz sicher nicht aufgenommen. Sie biss sich auf die Lippen. Vom ersten Tag an war sie Bruder Christophorus mit Argwohn und Ablehnung begegnet. Hätte sie sich anders verhalten, wenn sie von Aldos Bitte gewusst hätte? Sie konnte es nicht sagen.
Eines solltest du über Christophorus wissen, Marysa. Ich werde dies mit Absicht nur dir und nicht Mutter offenbaren. Du besitzt ein offenes und liebenswertes Gemüt, welches dich nicht voreilig einen Menschen aufgrund des äußeren Scheins verurteilen lässt. Du kannst ein Geheimnis bewahren, wenn es von dir verlangt wird, das weiß ich. Und das, liebe Schwester, wirst du auch in diesem Fall tun, solange es notwendig ist, nicht wahr?
Christophorus hat mir freigestellt, dir die Wahrheit zu verraten, wenngleich er selbst dies, so fürchte ich, nicht tun wird. Ich will ihn darum bitten, habe es schriftlich in meinem Letzten Willen ihm gegenüber bereits getan. Doch er ist starrsinnig, Marysa, und fest davon überzeugt, dass der Weg, den er einst gewählt hat, der richtige für ihn ist. Vielleicht war er das auch für eine lange Zeit. Das will ich nicht einmal bestreiten. Wenn er dir begegnet, wie er mir begegnet ist (und das wird er, ich kann es mir nicht anders vorstellen) , wirst du, ebenso wie ich, bald merken, dass mehr in ihm steckt als der Ablasskrämer, als der er durch die Lande zieht.
Marysas Herz begann heftig zu pochen, und sie hielt unwillkürlich die Luft an, während sie weiterlas.
Wenn du ihm sagst, dass ich darum gebeten habe, wird er sich dir offenbaren. Wenigstens dir gegenüber wird er es tun, da bin ich sicher. Verschweigst du ihm diese meine Worte, wird er jedoch von sich aus niemals über seine Vergangenheit sprechen. Zu lange schon gefällt er sich in der Rolle, die er übernommen hat. Ich kann nicht leugnen, dass er sie gut ausfüllt.
Er ist ein Mann mit vielen Talenten, Schwesterchen. Beobachte ihn eine Weile, und du wirst es selbst sehen. Ich kann dir in diesem Brief nicht alles über ihn berichten, was ich weiß. Es wäre besser, wenn er das selbst tun würde.
Marysa rang nach Atem. Ihre Aufregung wuchs ins Unermessliche.
Seine Eltern starben früh und unter Umständen, die wohl mitverantwortlich dafür sind, was aus ihm geworden ist. Ein Diener des Herrn, Marysa, jedoch auf weit sonderbarere Weise, als sein Habit und das Gelübde, das einen Dominikaner gemeinhin auszuzeichnen pflegt, dir weismachen wollen. Er trägt sein Herz am rechten Fleck und besitzt mehr Nächstenliebe und Klugheit als die meisten frommen Zeitgenossen, die mir in meinem Leben begegnet sind.
Urteile also nicht vorschnell, sondern sprich mit ihm. Frage ihn nach einem Mann namens Robert, vielleicht wirst du dann einiges besser begreifen. Entscheide erst, nachdem du offen mit ihm gesprochen hast, was du tun und wie du zu ihm stehen willst.
Ich habe Christophorus nach Aachen geschickt, damit er dir und Mutter beisteht. Mein Wunsch ist es, dass ihr ihn in die Familie aufnehmt, als das, was er ist: mein guter Freund und Weggefährte. Wie lange er bleiben und was er für euch werden wird, liegt sowohl bei ihm als auch bei euch.
Nun, liebe Schwester, bleibt mir nur noch eines zu sagen, bevor mich meine Kräfte verlassen: Ich werde dich immer brüderlich lieben. Auch wenn meine Gebeine fern der Heimat begraben liegen werden, wird ein Teil von mir immer bei dir sein, bis wir uns im himmlischen Jerusalem dereinst wiedersehen werden.
Dein Bruder Aldo Schrenger
15. Dezember Anno Domini 1411
Auf den letzten Zeilen wurde die Schrift immer krakeliger; es musste Aldo große Anstrengung gekostet haben, den Brief zu vollenden. Hatte er Schmerzen gehabt? Fieber? Marysa legte die Hände an ihre Wangen, die nun heftig glühten. Aldo war sehr schwer verletzt gewesen. Ein Wunder, dass er es überhaupt geschafft hatte, die Briefe an seine Familie zu verfassen. Was er ihr da angedeutet hatte, war so ungeheuerlich, dass Marysa die Worte fehlten. Wie betäubt starrte sie auf den Brief, war kurz davor, ihn zu zerknüllen. Doch dann las sie ihn ein zweites Mal.
35. KAPITEL
«Sie sind hier», sagte Barnabas zu dem Geistlichen, den er vor dem Eingang der Krone abgepasst hatte.
Dieser zog unwillig die Brauen zusammen. «Wer ist hier?»
«Bruder
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