Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
für Probleme er mit seiner verrückten Frau hat.«
Ambers Herz setzte einen Schlag aus. Ihre Großmutter konnte doch unmöglich von ihr und Jay wissen, oder? Nein, das war unmöglich. Es war nur das schlechte Gewissen, das ihr derartige Trugbilder eingab.
»Hast du schon mit Greg gesprochen?«, fragte Amber. »Wenn du ihm vielleicht erklären würdest, welche Sorgen …«
»Dein Cousin hatte reichlich Gelegenheit, mich davon zu überzeugen, dass er bedauert, was er getan hat. Doch er interessiert sich mehr dafür, sich zu Tode zu trinken, als der Enkel zu sein, den ich mir gewünscht habe, der Sohn, der verwirklicht, was in seinem Vater angelegt war. Ich hatte gehofft, in ihm etwas von der Größe seines Vaters zu entdecken, aber alles, was ich erkenne, sind Schwäche und Verderbtheit. Sein Benehmen an Weihnachten hat alle meine Befürchtungen bestätigt. Selbst wenn er wie durch ein Wunder nicht all das zerstört, was ich aufgebaut habe, wer sagt denn, dass er nicht noch mehr Bastarde in die Welt setzt? Einer sitzt ja schon oben. Gott hat mir keinen Gefallen damit getan, als er dem Kind zu überleben erlaubt hat.«
»Großmutter!«, protestierte Amber. »Wie schrecklich, so etwas zu sagen!«
»Meine Güte, Amber, hör auf mit der Traumtänzerei und nimm endlich Vernunft an. Welche anständige junge Frau aus guter Familie würde Greg heiraten und ihm Söhne gebären, wenn sie seine Vergangenheit und die des Kindes da oben kennt?«
»Du hast Greg doch zur Strafe nach Hongkong geschickt, Großmutter«, erinnerte Amber sie resolut.
»Ihr mögt es als Strafe ansehen, Amber. Ich hingegen habe es als Chance für Greg betrachtet, sich zu rehabilitieren und das zu werden, was ich mir sehnlichst von ihm erhofft hatte.«
»Ich wünschte, du würdest dir das mit dem Testament noch einmal überlegen«, sagte Amber.
»Nun, da wünschst du vergebens, denn das tue ich nicht, glaub mir. Ich habe mich entschieden, Amber. Außerdem ist es jetzt zu spät. Mr Brocklehurst hat mir letzte Woche das neue Testament gebracht, es ist bereits notariell beglaubigt. Du erbst alles, und nach dir Luc.«
Als Amber sich abwandte, fiel ihr Blick auf das große Familienalbum, das auf dem Tischchen neben dem Sessel ihrer Großmutter lag. Als Kind hatte sie oft gebettelt, sich die Fotos ansehen zu dürfen, vor allem die ihrer Mutter, doch Blanche hatte ihr auf den steifen Gruppenaufnahmen vor allem ihren Sohn Marcus gezeigt, Gregs Vater. Amber erinnerte sich, wie sehr sie sich immer für ihre Mutter geärgert hatte und dass sie sich als ganz kleines Mädchen geweigert hatte, Marcus auch nur anzusehen, weil ihre Großmutter ihren Sohn Ambers geliebter Mutter so vorgezogen hatte. Das hatte ihrer Großmutter natürlich nicht gefallen, und so hatte sie sich spitz über verzogene Kinder geäußert und wie gut es ungezogenen Gören täte, bei Wasser und Brot im kalten Schlafzimmer eingesperrt zu werden.
Um Ambers Lippen spielte ein zärtliches Lächeln. Ihre Mutter hatte Blanche nie erlaubt, ihre Drohungen in die Tat umzusetzen; und es hatte ihr, wie es schien, auch nichts ausgemacht, dass Blanche ihrem verstorbenen Sohn den Vorzug gab. Sie hatte es einfach mit einem ruhigen Lächeln hingenommen.
»Sie kann nicht anders, Amber«, hatte ihre Mutter einmal gesagt, als Amber wissen wollte, warum ihre Großmutter sich so benahm. »Er war ihr Ein und Alles. Ihn zu verlieren war ein schrecklicher Schicksalsschlag. Wenn du einmal erwachsen bist und selbst Kinder hast, wirst du das verstehen.«
Ihre Eltern hätten Luc so geliebt. Amber musste ein paar Tränen wegblinzeln.
Blanche sah, dass sie das Album anschaute, nahm es auf den Schoß und schlug es auf. »Erinnerst du dich daran?«
»Ja, natürlich. Als kleines Mädchen hat es mich immer fasziniert, die Babybilder von meiner Mutter zu sehen. Ich habe nie verstanden, wieso es keine von meinem Vater gab.«
»Deine Mutter war ein hässliches Kind; ich war furchtbar enttäuscht, als ich sah, dass sie weder nach mir kommt noch nach ihrem …«
Amber sah ihre Großmutter an, die nach kurzem Zögern fortfuhr: »… nach ihrem Bruder. Gregs Vater war wirklich ein zauberhaftes Baby.« Sie blätterte die Seiten um und zeigte Amber ein Bild von sich selbst als junger Frau mit einem unbestreitbar reizenden Baby im Arm.
»Das war Marcus, und da ist deine Mutter.«
Blanche blätterte um, und Amber sah eine Fotografie ihrer Großmutter mit einem Baby, daneben ein Kind mit Lockenkopf. »Oh, da ist sie ja, und
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