Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
erwischen. Der neue Gutsverwalter wollte sie zum Bahnhof bringen. Er war ein angenehmer Kerl und sehr gut, aber natürlich war er nicht Jay.
Jay schrieb regelmäßig an ihre Großmutter und an seine Töchter. Und an Bunty? Was geht es mich an, ob er dem jungen Landmädchen schreibt?, wies Amber sich zornig zurecht. Jay bedeutete ihr nichts.
Entschlossen machte Amber sich auf den Weg zu dem Abstellraum, in dem die Koffer aufbewahrt wurden. Sie wählte einen kleinen Wochenendkoffer und ging zurück zu ihrem Zimmer. Auf dem Gang lief ihr Rose über den Weg.
»Ich wollte, du würdest nicht wegfahren.«
Amber schloss Rose kurz in die Arme. »Ich bleibe nicht lange weg, und wenn ich wieder da bin, veranstalten wir eine große Ostereiersuche, das wird fein.«
Rose nickte, doch Amber sah, dass sie noch nicht ganz beruhigt war. Ihr Haar musste geschnitten werden. Die Kinderfrau würde ihr wieder eine Topffrisur verpassen, die Roses zarten Zügen überhaupt nicht schmeichelte.
»Wenn du willst, darfst du mir beim Kofferpacken helfen«, bot sie dem kleinen Mädchen an, um es aufzumuntern.
Sofort hellte sich Roses Miene auf, und sie legte ihre Hand in Ambers. Gemeinsam gingen sie über den Flur zu Ambers Zimmer. Amber öffnete die Tür und blieb wie angewurzelt stehen.
Neben dem Bett stand Greg mit einer Miene wilden Zorns. Die Nachttischschublade war offen. Sobald sie ihren Vater erblickte, drängte Rose sich enger an Amber.
»Also gut, wo ist es?«, herrschte Greg sie an. »Ich weiß, dass du heute auf der Bank warst. Wo ist das Geld, Amber? Irgendwo muss es sein.«
Ihre Handtasche! Sie hatte sie in den Schrank gestellt, als sie die Straßenkleidung abgelegt hatte, mehr aus Gewohnheit denn aus irgendeinem besonderen Grund. Sie hatte Greg schon seit einiger Zeit in Verdacht, Geld aus ihrer Börse zu stehlen, doch das hier war etwas anderes. Greg war anders, erkannte sie, als sie die hässliche Brutalität in den einst so hübschen Zügen sah.
»Greg, ich finde, du solltest wirklich auf dein Zimmer gehen«, sagte sie ruhig.
Er achtete gar nicht auf ihre Worte und insistierte ärgerlich: »Ich will das Geld, Amber. Ich brauche es.«
Zuckungen überfielen ihn, bis sich sein Körper so heftig krümmte, dass Amber glaubte, er würde zusammenbrechen. Instinktiv trat sie näher, um ihm zu helfen, doch zu ihrem Entsetzen packte er das Foto von Robert und Luc und schlug den Rahmen auf den Nachttisch, sodass das Glas zersprang. Er warf den Rahmen zu Boden und griff sich eine Glasscherbe, ohne auf das Blut zu achten, das aus einem Schnitt an seinem Finger strömte.
»Her mit dem Geld, Amber! Her damit!«, schrie er.
Rose schluchzte vor Angst auf, und Ambers Herz begann schwer zu klopfen; dunkel und blutig blitzte ein anderes Messer aus einer anderen Zeit in ihrer Erinnerung auf.
Vielleicht war das ihr Schicksal. Vielleicht sollte sie einfach zu ihm gehen, dann konnte sie für immer mit Robert und Luc zusammen sein.
»Gib mir das Geld!« Gregs Gesicht war schweißüberströmt.
Rose weinte. Greg fuhr herum und machte Miene, sie zu packen. »Halt’s Maul!«, brüllte er zornig. »Halt’s Maul, sonst stopfe ich es dir für alle Zeiten!«
Seine Worte rissen Amber in die Wirklichkeit zurück. Sie zog Rose von ihm weg und nahm sie beschützend in die Arme. »Es ist im Schrank, in meiner Handtasche.«
Er ließ die Scherbe fallen und riss die Schranktür auf. Dann packte er die Handtasche, drehte sie um und schüttelte sie wie wild, bis Ambers Börse herausfiel. Als er die fünfzig Pfund herausnahm, die sie in Macclesfield abgehoben hatte, verschmierte er die Banknoten mit seinem Blut.
Das ist mein Cousin, erinnerte Amber sich, nicht irgendein Verrückter im Drogenrausch, sondern mein Cousin, den ich einmal geliebt habe.
»Greg, bitte«, flehte sie ihn an. »Bitte hör auf. Bitte lass dir von Dr. Brookes helfen. Ich weiß, dass es nicht leicht wird …«
»Mir helfen?«, lachte er wild. »Mir kann jetzt nur noch einer helfen, und das ist Dr. Opium, nicht der verdammte Dr. Brookes.«
»Greg, bitte«, flehte Amber, ließ Rose los und stellte sich vor die Tür.
»Aus dem Weg!«
»Was ist hier los?«
Ihre Großmutter. Als Amber sich umdrehte, drängte Greg sich so grob an ihr vorbei, dass er sie gegen die Tür stieß.
»Ich muss ihn aufhalten«, sagte Amber aufgeregt zu Blanche.
»Nein. Lass ihn gehen, Amber.«
Amber hörte, wie er die Treppe hinunterpolterte. Sie wusste, dass er zu dem Mann nach Manchester fahren
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