Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
würde, der ihn mit Drogen versorgte. Sie wollte ihm verzweifelt nachlaufen und ihn bitten zu bleiben, ihn anflehen, doch Vernunft anzunehmen. Die Haustür ging auf und fiel wieder ins Schloss. Tränen brannten ihr in den Augen. Sie blickte zu Rose, die sich zu ihr geschlichen hatte und sich nun, am ganzen Leib zitternd, an sie klammerte.
Das arme kleine Mädchen, seinen Vater in so einem Zustand zu sehen und sich so vor ihm fürchten zu müssen.
»Ich kehre wohl besser die Scherben auf«, sagte Amber zu ihrer Großmutter. »Aber zuerst bringe ich Rose rauf in den Kindertrakt.«
Einige Glassplitter hatten sich in den Teppich gebohrt, und Amber schnitt sich in den Finger, als sie ein Stück aufhob. Während sie an der kleinen Wunde saugte, hob sie das Foto von Robert und Luc auf und strich es zärtlich glatt. Jay hätte Greg beruhigen können, wenn er da gewesen wäre. Ein Gefühl großen Verlustes und großer Verzweiflung überkam sie, gefolgt von bitterem Zorn auf sich selbst. Warum war sie so schwach? Sie sollte jetzt nicht an Jay denken. Hatte sie denn schon vergessen, dass ihr Mann und ihr lieber, lieber Sohn in dem Augenblick gestorben waren, da sie an Jay gedacht hatte?
Nachdem sie die Scherben aufgesammelt hatte, ging Amber in den Kindertrakt hinauf. Die Mädchen lagen im Bett, und die Kinderfrau spitzte missbilligend die Lippen, als Amber sagte, sie wolle nach Rose sehen.
Wie Amber sich gedacht hatte, war Rose noch wach. Sie setzte sich zu ihr ans Bett und nahm ihre Hand.
»Schade, dass du wegfahren musst«, sagte Rose.
»Ich bin nicht lange fort«, versicherte sie ihr. »Und dann gehen wir Ostereier suchen, weißt du noch?«
Rose richtete ihre Mandelaugen angstvoll auf Amber. »Und wenn mein Daddy zurückkommt und böse wird, wenn du nicht da bist?«
Amber fasste Roses Hand fester. So wurde einem das Herz gebrochen, nicht wegen eines Mannes, sondern wegen der Grausamkeit, die ein Mensch einem anderen zufügte, indem er ihn nicht so liebte, wie er sollte.
»Urgroßmutter passt auf, dass das nicht passiert«, erklärte Amber und hoffte, dass es stimmte.
»Warum hat mein Daddy mich nicht lieb?«
»Ich weiß nicht, Rose. Vielleicht liegt es daran, dass er niemanden lieben kann, nicht mal sich selbst«, erklärte Amber. »Aber ich hab dich lieb. Sehr lieb.«
»Ich dich auch, und Ella und Jane und ihren Daddy auch. Ich wünschte, er wäre mein Daddy.«
Amber blieb bei ihr sitzen, bis Rose eingeschlafen war.
In der Kindheit gab es tatsächlich noch Schlimmeres, als seine Eltern zu verlieren; und mit am schlimmsten war es, wenn einen Vater oder Mutter nicht liebte.
52
»Du liebe Zeit, ich hoffe, wir kommen nicht mit allzu großer Verspätung in Euston an.«
Amber lächelte der hübschen jungen Frau, die ihr im Erste-Klasse-Abteil gegenübersaß, höflich zu.
»Ich glaube nicht«, versicherte sie ihr.
»Ich treffe mich mit meinem Verlobten, verstehen Sie«, fuhr die junge Frau mit geröteten Wangen fort, während sie nervös mit ihrem Diamantring spielte. »Also, wir werden mit Sondererlaubnis heiraten. Man weiß ja nie, oder? Ich meine, was die Zukunft angeht, besonders wenn Krieg ist, und wenn etwas passieren und er den Krieg nicht überleben würde, möchte ich, dass wir zusammen alles Glück erlebt haben, das wir hätten erleben können. Er ist bei der Marine, wissen Sie, als Begleitschutz für die Handelsschiffe, die über den Atlantik kommen.«
In ihren Augen schimmerten Tränen. »Ich war nämlich schon mal verlobt, bevor ich Charlie kennengelernt habe. Wir sind zusammen aufgewachsen, Frank und ich, und als der Krieg näher rückte, meinte er, wir sollten uns verloben. Ich war mir nicht recht sicher, aber ich konnte nicht nein sagen, nicht, wo er in den Krieg gezogen ist, und dann ist er gefallen.Viele finden, ich sollte Charlie nicht so schnell heiraten, das wäre respektlos, aber Frank hätte das verstanden, er hätte gewollt, dass ich glücklich bin, und darum geht es doch, wenn man jemanden liebt, oder, man will, dass der andere glücklich ist?«
»Ja, ganz sicher«, stimmte Amber ihr zu.
Der Zug hatte seine Fahrt verlangsamt, und die junge Frau schaute ängstlich aus dem Fenster.
»Es ist alles in Ordnung«, versicherte Amber ihr. »Wir fahren in Euston ein, das ist alles.«
Jemanden zu lieben bedeutete, man wollte, dass der andere glücklich war. Robert hätte dem sicher zugestimmt, dachte Amber, als sie im Strom ihrer Mitreisenden zur Bahnsteigsperre stapfte.
Sie
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