Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
ich noch in der Fabrik vorbei, ich brauche heute also kein Mittagessen.«
Amber hatte einen Brief von Roberts Anwalt bekommen, er habe einige wichtige Papiere, die sie unterschreiben müsse, ob sie am Gründonnerstag nach London kommen könne, um die Angelegenheit zu regeln. Sie hatte ihm den Termin telefonisch bestätigt und angefragt, ob es möglich sei, ihn recht spät in seiner Kanzlei aufzusuchen, damit ihr genügend Zeit für die Anreise bliebe. Sie wollte im Ritz übernachten und am Ostersamstag zurückfahren, wenn die Züge hoffentlich nicht mehr so voll waren. In Macclesfield musste sie nun zur Bank, um etwas Geld für ihre Ausgaben unterwegs abzuheben.
»Ich weiß nicht, was noch aus der Welt werden soll, wenn eine Dame überall hinradeln muss, statt sich von ihrem Chauffeur fahren zu lassen. Das schickt sich doch nicht.«
Amber lachte. »Mir macht es Spaß«, erklärte sie der Köchin wahrheitsgemäß und erinnerte sie daran: »Alles, was jetzt ins Land kommt, wurde von unseren tapferen Matrosen hergeschafft; und unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass sie nicht mehr zu tun bekommen, als unbedingt nötig ist.« Jeder wusste, welch schweren Tribut, wie viele Todesopfer die deutsche Marine von der britischen Seefahrt forderte. »Ich gehe nur schnell hinauf und sage Greg, dass ich ausgehe, falls er etwas braucht.«
Amber machte sich große Sorgen um ihren Cousin. Sein Verhalten wurde immer unberechenbarer, wechselte zwischen schrecklichen Wutausbrüchen, Euphorie und Phasen dumpfer Apathie, in denen er sein Zimmer gar nicht mehr verließ.
Dr. Brookes hatte ihr erklärt, diese Stimmungsschwankungen seien auf die Drogen und den Alkohol zurückzuführen.
»Aber es gibt doch bestimmt irgendetwas, was wir noch tun könnten?«, hatte sie ihn gefragt.
»Leider nicht. Es sei denn, Greg selbst will etwas ändern.«
Gregs Zimmertür stand offen, und Greg lag unrasiert und angekleidet auf dem Bett, neben sich eine leere Ginflasche. Die Luft im Zimmer war abgestanden, und es roch säuerlich. Der attraktive junge Mann, der Greg einst gewesen war, war verschwunden. Die Züge des Mannes auf dem Bett waren aufgeschwemmt und derb, sein Teint gerötet und sein Haar dünn.
Amber verspürte eine Welle hilflosen Mitleids mit ihrem Cousin.
Er reagierte nicht, als sie ihn rief, sodass ihr nichts anderes übrig blieb, als aufzubrechen, ohne mit ihm gesprochen zu haben.
In der Stadt hatte wegen des bevorstehenden Osterwochenendes lebhafter Betrieb geherrscht, und dann hatte Maurice Amber weitaus länger in der Fabrik aufgehalten, als sie erwartet hatte, sodass sie erst am späten Nachmittag nach Denham Place zurückkehrte.
Die Kinder trugen Schürzen über ihren Kleidern und saßen schon beim Abendessen, gekochte Eier mit Toaststreifen. Emerald zog einen Flunsch und beschwerte sich, weil sie keine Eier mochte.
»Natürlich magst du Eier«, sagte Amber fröhlich. »Und Phoebe hat dieses Ei extra für dich gelegt.«
Die Kinder hatten ihre eigenen Hühner, die in einem kleinen Stall im Garten gehalten und jeden Morgen von den Kindern gefüttert wurden. Amber fand es wichtig, dass sie kleine Pflichten übernahmen, auch wenn sie sich höchstpersönlich jeden Abend davon überzeugte, dass die Hühner auch sicher weggeschlossen waren.
»Jetzt, wo Sie wieder da sind, setze ich mal den Teekessel auf, ja?«, meinte die Köchin.
»Ach, wie schön. Eine Tasse Tee wäre jetzt genau das Richtige«, bedankte Amber sich, bevor sie aus der Küche ging, um die Straßenkleidung abzulegen.
Es würde sicher seltsam sein, nach London zu fahren und anstelle der einfacheren ländlichen Sachen, die sie eher nach praktischen Gesichtspunkten aussuchte als nach Schick, Stadtkleidung zu tragen.
Oben im Schlafzimmer machte Amber sich daran, das alte Twinset und den Tweedrock anzuziehen. Sie hielt kurz inne, um das Foto von Robert und Luc zu betrachten, das auf ihrem Nachttisch stand. Das Bild war im Sommer aufgenommen worden, und die beiden lachten. Amber wusste noch, wie ungeduldig Luc darauf gewartet hatte, dass sie endlich mit Fotografieren fertig war, damit er und Robert weiter Kricket spielen konnten. Es war das letzte Foto, das sie von den beiden gemacht hatte, und sie hütete es wegen der damit verbundenen Erinnerungen ebenso wie wegen des Glücks, das aus den beiden Gesichtern strahlte.
Sobald die Kinder im Bett lagen, musste sie ihren Koffer packen. Sie würde früh am Morgen aufbrechen, um den ersten Zug nach London zu
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