Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
Greg zur Strafe aus Cheshire weggeschickt würde, aber ich glaube, deiner Großmutter und Greg war es durchaus recht, dass Greg ein wenig Abstand gewann.«
Greg hatte sich darauf gefreut, nach Hongkong zu gehen – das wusste Amber aus seinem Brief -, also hatte er Caroline wohl nicht geliebt. Jetzt erinnerte sie sich auch daran, dass er an jenem Nachmittag, an dem sie nach Fitton Hall gefahren waren, nervös gewirkt hatte. Und hatte sie sich nicht über Lady Fitton Leghs beinahe ungebührlich vertrauliches Verhalten ihm gegenüber gewundert? Hatte sie sich vielleicht mehr aus Greg gemacht als umgekehrt?
»Ich verstehe das nicht ganz. Was hat Gregs Hongkongreise mit Lady Fitton Leghs Tod zu tun?«
Jay seufzte. Er hatte gewusst, dass sie an diesen Punkt kommen würden.
»Lady Fitton Legh war schwanger.«
Amber erriet sofort, was er ungesagt ließ. »Von Greg?«
»Das weiß ich nicht.«
»Aber es ist möglich, dass das Kind von Greg war?«
»Ja«, räumte Jay ein. Was hätte er sonst sagen sollen? In ganz Cheshire wurde darüber getratscht, und Cassandra hatte geschworen, Caroline habe ihr erzählt, das Kind sei von Greg, und ihn beschuldigt, er wolle sie verlassen.
»Weiß Lord Fitton Legh, dass das Kind vielleicht von Greg war?«
»Ich nehme es an, ja.«
»Ach, die arme Caroline.«
»Sie war in einer unglücklichen Lage.« Unhaltbar hätte es eher ausgedrückt, dachte er im Stillen.
»Was ist passiert?«
»Sie ist ertrunken, im See. Cassandra hat sie gefunden und Alarm geschlagen, aber es war zu spät. Man vermutet, dass sie vom Weg auf die Wiese getreten ist, dort ausglitt und sich nicht mehr retten konnte. Es hatte geregnet, und der Weg und das Ufer waren schlammig.«
Amber schluckte. Ein tragischer Unfall – oder hatte Lady Fitton Legh sich das Leben genommen, weil sie den Klatsch und die Schande nicht ertrug, ein Kind unter dem Herzen zu tragen, das womöglich nicht von ihrem Ehemann war? Hatte sie Greg vielleicht geliebt, obwohl er für sie keine Liebe empfunden hatte? Wie es sich wohl anfühlte, einen Mann zu lieben und dann in einer solchen Lage von ihm im Stich gelassen zu werden? Amber schauderte.
Als Jay es bemerkte, fragte er sich, ob er vielleicht zu viel gesagt hatte.
»Du bist schockiert«, versuchte er sie zu trösten. »Aber es ist besser, du weißt die Wahrheit, als sie dir aus irgendwelchen wilden Geschichten zusammenzureimen. Ich weiß, wie viel Greg dir bedeutet.«
»Aber was ist die Wahrheit?«, fragte Amber. »Woher sollen wir das wissen? Wie verzweifelt und einsam muss sie gewesen sein, dass sie sich selbst und ihr Kind umgebracht hat.«
Jay ergriff ihre Hand und hielt sie fest. Caroline Fitton Legh war oberflächlich und egoistisch gewesen, Greg in vielerlei Hinsicht sehr ähnlich. Amber hingegen empfand sehr tief, egal ob es um andere Menschen ging oder um sie selbst.
»Wir müssen akzeptieren, dass es ein Unfall war, Amber, Lady Fitton Legh und auch allen anderen zuliebe.«
Amber nickte. Natürlich wusste jeder, dass Selbstmord gegen das Gesetz verstieß; wer sich das Leben genommen hatte, durfte nicht auf geweihtem Boden beerdigt und das Grab durfte nicht gekennzeichnet werden.
»Ich bin froh, dass du es mir erzählt hast, Jay.«
»Und jetzt sollten wir von schöneren Dingen reden. Ich habe dir etwas mitgebracht, von dem ich hoffe, dass es dich freut und dir Trost spendet«, sagte er lächelnd. »Deine Großmutter hat mich beauftragt, verschiedene Dinge und Papiere zu katalogisieren, die sich im Lauf der Jahre angesammelt hatten, und darunter habe ich das hier gefunden.«
Er klappte den Aktenkoffer auf, den er auf der lederbezogenen Schreibfläche des Mahagonischreibtisches abgestellt hatte, und holte etwas heraus, das wie ein dicker Skizzenblock aussah.
Als er es Amber überreichte, zitterten deren Hände.
»Ich nehme an, das hat deinem Vater gehört.«
Den vertrauten Geruch von Lavendelwasser und Tabak, vermischt mit Grafit und Papier, den der Block verströmte, hatte sie längst erkannt, ehe sie die Unterschrift ihres Vaters auf dem Deckblatt gesehen hatte. Mit Tränen in den Augen drückte sie den Skizzenblock an sich und sah zu Jay auf.
»Danke, oh, dank dir, Jay.« Dann legte sie den Block auf den Schreibtisch und warf sich in seine Arme.
Diesmal hielt er sie nicht davon ab, sondern umfing sie tröstlich, während sie ihren Tränen freien Lauf ließ.
»Ich werde meinen Traum nie aufgeben, das zu tun, was mein Vater sich für mich gewünscht hat«,
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