Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
erklärte Amber leidenschaftlich, nachdem Jay sie freigegeben und ihr ein sauberes Taschentuch gereicht hatte.
»Dann hat kein gut aussehender junger Mann dein Herz erobert, seit du in London bist?«, neckte Jay sie.
»Nein.«
»Sicher nicht? In deinen Briefen erwähnst du recht oft einen gewissen Lord Robert.«
Amber knetete das Taschentuch mit den Fingern. »Ich mag ihn wirklich gern, wir sind Freunde, aber mehr nicht. Ich habe gesehen, wie er einen anderen Mann geküsst hat, und ich weiß, was das bedeutet. Manchmal kann die Liebe einem wirklich Angst machen.«
Die Worte waren ihr entschlüpft, ehe sie sichs versah. Brennende Röte stieg ihr ins Gesicht.
»Ja«, stimmte Jay ihr nüchtern zu. »Allerdings.« Er unterbrach sich und fügte dann hinzu: »Eine Liebe, wie Lord Robert sie empfindet, verstößt gegen das Gesetz, zumindest in diesem Land, und kann mit Gefängnis bestraft werden, deswegen wird kaum darüber gesprochen.«
»So etwas würde ich auch nur zu dir sagen, Jay«, erwiderte Amber, da sie spürte, dass er sie warnen wollte. »Irgendwie habe ich das Gefühl, ich könnte dir alles anvertrauen.«
»Ich hoffe, dass du immer so empfinden wirst.«
Schweigend sahen sie einander an. Amber ergriff als Erste wieder das Wort.
»Wie lange bleibst du in London?«
»Ich fahre heute noch nach Macclesfield zurück.«
»So bald schon?« Betrübt sah sie ihn an.
»Ja. Wenn ich meinen Zug noch erwischen will, muss ich sogar schon gleich aufbrechen«, versetzte er und schickte sich zum Gehen an.
Aus einem Impuls heraus wandte Amber sich ihm zu. »Du schreibst mir doch weiterhin, oder?« Als er nicht antwortete, bat sie ihn inständig: »Bitte, Jay, du musst. Ich habe sonst keinen, dem ich vertrauen kann. Du bist der einzige Mensch, der weiß, wie ich … die Dinge empfinde.«
Jay wusste, dass sie damit ihre Eltern meinte und dass man ihr ihre Träume genommen hatte. Sein Herz sehnte sich nach ihr, und nicht nur sein Herz. Er schloss die Augen. Es wäre vernünftiger, ihr die Bitte abzuschlagen. Sie war kein Kind mehr, und er wusste nicht, ob er sich darauf verlassen konnte, dass es ihm gelang, ihre alte, harmlose Kinderfreundschaft aufrechtzuerhalten.
Schon bevor sie von Denham Place nach London gegangen war, hatte ihm sein Körper verraten, was sein Verstand nicht wahrhaben wollte. Er hatte es gespürt, als er sie in den Armen gehalten und nie wieder hatte loslassen wollen. Genau wie er sie jetzt in den Armen halten und nie wieder loslassen wollte.
»Ich glaube, es wäre besser, wenn ich es nicht täte«, sagte er leise.
»Besser? Für wen wäre es besser?«, fragte Amber aufgewühlt. »Für mich nicht, Jay. Es ist schon schlimm genug, dass meine Großmutter mich nicht das tun lässt, was ich tun möchte; da möchte ich wenigstens wissen, was zu Hause und in der Fabrik passiert. Werden noch volle Schichten gearbeitet? Ist das Auftragsbuch voll? Ich weiß, dass es Großmutter egal ist, was in der Fabrik passiert, aber mir nicht, Jay, und ich dachte, dir auch nicht.«
Sie war zu jung und zu unwissend, um sich darüber im Klaren zu sein, was sie mit ihm machte und wie sehr ihr leidenschaftlicher Ausbruch ihn innerlich zerriss – zwischen widerstreitenden Bedürfnissen und der Last seiner Schuld.
Wenn er nachgab, würde sie glauben, er täte es ihr zuliebe, aber er war sich bewusst, dass er damit nur seiner eigenen Sehnsucht folgen würde, indem er ihre Nähe suchte, das Band zwischen ihnen stärkte und sie in seinem Herzen behielt, wo sie, wie er genau wusste, nichts zu suchen hatte.
»Jay, bitte«, flehte Amber. Sie wusste nicht, warum sie sich so verzweifelt an diesen Kontakt klammerte, aber die Vorstellung, ihn zu verlieren, Jay aus ihrem Leben zu verlieren, war mehr, als sie ertragen konnte. In ihren Augen brannten Tränen, doch sie hielt sie zurück. Schließlich war sie kein Kind mehr.Was die Stärke der Verbundenheit zwischen ihr und Lord Robert anging, hatte sie sich geirrt; sie könnte es nicht ertragen, wenn sie sich auch bei Jay getäuscht hätte. Sie brauchte die Gewissheit, dass ihr Band stark war und sie sich auf ihn verlassen konnte.
»Ich brauche deine Briefe«, sagte sie. »Wenn ich mich auf dich nicht verlassen kann, Jay, dann glaube ich nicht, dass ich je wieder mit Zuversicht auf irgendjemanden zu bauen vermag. Bitte versprich mir, dass du mit mir in Verbindung bleibst.«
Wie sollte er ihr diesen Wunsch abschlagen? Unmöglich.
»Wenn es das ist, was du dir wünschst«,
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