Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
verstärkte. Dies war nicht die Haltung von jemandem, der behauptete, eine Freundin der Toten gewesen zu sein, sondern von jemandem, der sich das Recht herausnahm, über sie zu Gericht zu sitzen. Jay runzelte die Stirn, denn derartige Gedanken widerstrebten ihm, und gleichzeitig fühlte er sich verpflichtet, ihnen um Carolines willen nachzugehen.
Ihre eigene Schuld. Diese herzlosen Worte weckten in Jay etwas Unerwünschtes und Undenkbares. Der Verdacht, Cassandras grausames Verhalten und ihre Weigerung, Lady Fitton Legh zu helfen, könnten tatsächlich zu ihrem Tod beigetragen haben, ließ sich nicht mehr abschütteln.
»Wenn Caroline dir anvertraut hat, dass ihr Ehemann nicht der Vater ihres Kindes war«, begann er düster, »dann …«
»Was dann?«, fragte Cassandra trotzig. »Hätte ich etwa für sie lügen und behaupten sollen, sie hätte einen Eid geschworen, dass das Kind von Lord Fitton Legh war? Warum? Warum hätte ich das tun sollen? Ich habe ihr gesagt, dass ich das nicht mache.«
Sein Verdacht war also begründet. Jay war zu schockiert, um mit seiner Meinung hinter dem Berg zu halten.
»Cassandra, wenn das stimmt, was du da sagst, dann ist dir doch sicher klar, dass du Caroline womöglich in den Tod getrieben hast.«
Über das Gesicht seiner Cousine huschte ein merkwürdiger Ausdruck – weder Triumph noch Schuldbewusstsein, aber etwas, das Jay mit der entsetzlichen Gewissheit erfüllte, dass Cassandra sich ihrer Verantwortung nicht nur bewusst war, sondern sich auch noch irgendwie eingeredet hatte, was sie getan hatte, wäre moralisch gerechtfertigt.
Hart auf den Fersen dieser Erkenntnis stellte sich eine weitere ein, ebenso unwillkommen und unerfreulich.
Cassandra hatte erklärt, sie habe weder lügen können noch lügen wollen, um Caroline zu helfen – aber war ihre Behauptung, Greg hätte sich Caroline gewaltsam genähert, nicht auch schon eine Lüge gewesen?
Irgendetwas an der ganzen Sache wollte Jay nicht gefallen, etwas Ungesundes und Widerliches, das nach Betrug und Missgunst roch. Er wollte sich nicht in die Sache hineinziehen lassen, doch er hatte das dringende Gefühl, es sei seine Pflicht. Amber war so bekümmert gewesen über die Ereignisse. Hauptsächlich wegen Greg natürlich – ihre Treue galt in erster Linie ihrem Cousin -, aber auch wegen Caroline Fitton Legh und ihres Kindes, obwohl sie Caroline im Gegensatz zu Cassandra nicht einmal intim gekannt hatte. Instinktiv zuckte er vor dem Wort »intim« und seinen geschmacklosen Bedeutungen zurück. Mit ein Grund, warum Cassandras Mutter Fitton Leghs Einladung für Cassandra so gern angenommen hatte, war – laut Jays eigener Mutter -, dass Cassandra eine intensive Freundschaft mit einer Frau begonnen hatte, die kürzlich in ihre Gegend gezogen war und die »an Lesbos’ Altar betet« – wie Jays Mutter es delikat ausgedrückt hatte.
Jay atmete tief durch. »Du sagst, du hättest dich geweigert, für Caroline zu lügen …«
Bevor er den Satz vollenden konnte, fiel Cassandra ihm heftig ins Wort: »Wie hätte ich das tun können? Es wäre moralisch falsch gewesen.«
»Und doch hast du gelogen, als du Lord Fitton Legh erzählt hast, du hättest Greg dabei ertappt, wie er sie vergewaltigen wollte, und wärst ihr zu Hilfe geeilt.«
Cassandra kniff die Lippen zusammen. Offensichtlich gefiel ihr nicht, was Jay sagte.
»Das war etwas anderes. Greg hat Strafe verdient«, rechtfertigte Cassandra sich. »Caroline wollte es ihm heimzahlen. Sie wollte, dass er in Ungnade fiel, und das wäre er auch, wenn sich seine Großmutter nicht eingemischt hätte. Ich begreife nicht, wie du dich so erniedrigen und dich von ihr kaufen lassen kannst, Jay, du bist schließlich ein de Vries! Großvater findet das auch. Er sagt, du hättest keinerlei Stolz oder Selbstachtung. Er sagt, du wärst ein Verräter an deinem Namen und würdest von Blanche Pickford mehr halten als von deiner eigenen Familie.«
»Mein Name ist Fulshawe, nicht de Vries«, erklärte Jay kühl. »Und was meinen Stolz und meine Selbstachtung angeht, so habe ich von beidem genug, um mich für einen besseren Menschen zu halten, weil ich mir meinen Lebensunterhalt selbst verdiene, so bescheiden er auch sein mag.«
Jay war sich im Klaren darüber, wie sehr es seinen Großvater ärgerte, dass er weder mit ihm über Blanche reden noch sich als Spion betätigen wollte, der Informationen über sie sammelte, die sie in einem ungünstigen Licht zeigten, weil er wusste, dass Barrant sich
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