Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
erwiderte er.
»Ja, ja, das ist es.«
»Also gut.«
Sie sahen einander an, und dann lief Amber spontan auf ihn zu. Im nächsten Augenblick würde sie in seinen Armen liegen.
Als Jay zurücktrat, merkte Amber, was sie gerade im Begriff war zu tun, blieb abrupt stehen und errötete. Der arme Jay. Wie peinlich für ihn, wenn sie sich wie ein Kind in seine Arme gestürzt hätte.
Sie streckte die Hand aus und berührte ihn sacht am Ärmel. »Danke, Jay.«
»Du hast sicher schon gehört, dass Lord Fitton Legh mich angefleht hat, in Fitton Hall zu bleiben und mich um das Kind zu kümmern?«, fragte Cassandra wichtigtuerisch, während sie die breite Steintreppe herunterkam, die zum Haupteingang des großväterlichen Herrenhauses führte. Die späte Frühlingssonne ließ ihr Haar feurig auflodern, und sie hatte – ob zufällig oder absichtlich, wusste Jay nicht – zu reden begonnen, als sie oben auf der Treppe gestanden hatte, während er sich gerade anschickte hinaufzugehen, sodass sie sich jetzt etwa auf Augenhöhe befanden.
»Ja, Cassandra, ich habe davon gehört«, versetzte Jay.
»Lord Fitton Legh hat seine Cousine Elaine Fitton gebeten, nach Fitton Hall zu kommen, als meine Anstandsdame. Aber sie ist viel zu alt, um sich um das Kind zu kümmern.«
Jay wurde das Herz schwer. So, wie Cassandra mit ihrer neuen Aufgabe prahlte, war sie offenbar entzückt darüber, doch in ihren Worten klang nicht die geringste Spur von Wärme für Carolines kleinen Sohn an.
»Es ist betrüblich, dass Caroline nicht mehr am Leben ist, um sich selbst um ihr Kind zu kümmern«, meinte er, und es gelang ihm nicht, seine Gefühle aus seiner Stimme herauszuhalten.
Er hatte Cassandra nie sonderlich gemocht, aber etwas an ihrem gegenwärtigen Benehmen beunruhigte ihn zutiefst, obwohl er nicht recht sagen konnte, was es eigentlich war. Sie hatte Lady Fitton Legh nahegestanden, und doch schien ihr Tod sie nicht weiter zu berühren, was ihn bestürzte, zumal sie auch noch diejenige gewesen war, die die Leiche gefunden hatte – wenigstens das hätte doch irgendeine tiefe Wirkung auf sie haben müssen. Bei jedem anderen hätte er diese Distanz für ein Mittel gehalten, um sich vor dem Schmerz zu schützen, aber so war Cassandra nicht. Sie war ihren Gefühlen schon immer hilflos ausgeliefert gewesen und hatte sie überall offen gezeigt.
»Was ihr zugestoßen ist, war doch ihre eigene Schuld«, verkündete sie selbstgerecht. »Ich habe versucht, ihr zu helfen. Ich habe sie gewarnt, was passieren würde, wenn Lord Fitton Legh herausfände, dass sie von einem anderen Mann schwanger ist.«
Ihre Selbstgefälligkeit erfüllte Jay mit Abscheu. Empfand sie denn nicht das geringste bisschen Mitleid?
»Das sind doch reine Spekulationen«, mahnte er.
»Nein, keineswegs. Sie hat mir selbst gesagt, dass es unmöglich von ihrem Ehemann stammen könnte. Sie war ein Dummkopf.« Cassandras Stimme schwoll zornig an. »Sie hätte das Kind doch wegmachen lassen können. Jeder weiß, dass es dafür Ärzte gibt. Und sie hätte es sich auch leisten können, auch wenn ihr Vater einen Haufen Geld verloren hat. Sie hätte nur ein paar Stücke von dem scheußlichen Schmuck verkaufen müssen, den ihre Eltern ihr zur Hochzeit geschenkt haben. Schließlich stand ja nicht zu erwarten, dass sie ihn noch einmal tragen würde, nachdem Lord Fitton Legh ihr verboten hatte, an Gesellschaften teilzunehmen … kein Wunder bei der Schande, die sie über sich gebracht hatte.«
In ihrem Ton lag echte Rachsucht. Und noch etwas anderes?
Jay wusste nicht, warum, doch je länger er dem Ausbruch seiner Cousine lauschte, desto unruhiger wurde er.
»Sie hätte auf mich hören sollen«, fuhr Cassandra aufgebracht fort. »Ich habe ihr gesagt, was passieren würde, wenn sie das Kind nicht wegmachen ließe. Ich habe ihr gesagt, dass sie in Ungnade fallen würde und dass Lord Fitton Legh das Kind nicht als seines akzeptieren würde, wenn er es erführe. Ich habe ihr auch gesagt, dass jeder erfahren würde, dass sie sich zur Hure gemacht und ihr Ehegelübde gebrochen hat.«
Cassandras beinahe schadenfrohe Befriedigung stieß Jay ab. Am liebsten hätte er sich geweigert, ihr weiter zuzuhören, und wäre gegangen.
»Aber sie hat meine Warnung ignoriert. Ich hätte ihr geholfen und sie begleitet, das wusste sie. Es war ihre eigene Schuld. Es hätte nicht so kommen müssen. Sie hat sich dafür entschieden.«
Cassandra klang nun rechtschaffen kritisch, was Jays Unruhe nur noch
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