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Der Glanz des Mondes

Der Glanz des Mondes

Titel: Der Glanz des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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erwachten. Sie wechselten zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, und manchmal, wenn sie lernten, ihr zweites Ich zu benutzen, sah Shizuka den zitternden, unscharfen Umriss ihrer Gestalt.
    Zenko, ihr Ältester, war weniger begabt als sein Bruder. Nur noch etwa ein Jahr trennte ihn vom Mannesalter und seine Talente hätten sich eigentlich rasch entwickeln müssen. Aber Shizuka sah, dass er sich mehr für Pferde und Schwerter interessierte: Er kam ganz nach seinem Vater. Würde Arai ihn nun zu sich nehmen wollen? Oder würde er weiterhin versuchen, seinen legitimen Sohn zu schützen, indem er die Bastarde töten ließ?
    Zenko bereitete ihr mehr Sorgen als Taku. Es zeichnete sich bereits deutlich ab, dass Taku zu den Hochbegabten zählte; er würde beim Stamm bleiben und es dort sehr weit bringen. Kenji hatte keine Söhne, und vielleicht würde aus Taku eines Tages ja sogar der neue Meister der Mutofamilie. Seine Begabung hatte sich früh gezeigt: Sich unsichtbar zu machen fiel ihm so leicht, als wäre es etwas ganz Natürliches, und sein Gehör war scharf; wenn er zum Mann reifte, würde es vielleicht sogar so gut werden wie das von Takeo. Er war übergelenkig wie sie selbst, konnte sich in die engsten Verstecke pressen und stundenlang dort ausharren. Taku liebte es, die arbeitenden Mädchen an der Nase herumzuführen, sich in einem leeren Pökelfass oder einem Bambuskorb zu verstecken, um dann überraschend herauszuspringen wie der freche Tanuki aus den Geschichten.
    Sie ertappte sich dabei, ihren jüngeren Sohn mit Takeo zu vergleichen. Wenn ihr Cousin dieselbe Erziehung genossen hätte, wenn die Kikuta gleich nach seiner Geburt von ihm erfahren hätten, wäre ein Stammesangehöriger aus ihm geworden, so wie aus ihren Kindern, wie aus ihr selbst: jemand, der Härte zeigte, gehorsam war und keine Fragen stellte…
    Allerdings, dachte sie, stelle ich Fragen. Ich denke nicht einmal mehr, dass ich noch gehorsam bin. Und was ist aus meiner Härte geworden? Ich werde Takeo niemals töten oder irgendetwas tun, um Kaede zu verletzen. Dazu kann mich niemand zwingen. Ich wurde geschickt, ihr zu dienen, und ich habe sie in mein Herz geschlossen. Ich war ihr treu ergeben und kann es nicht zurücknehmen. Damals in Inuyama habe ich ihr gesagt, dass selbst Frauen dazu in der Lage sind, ehrenvoll zu handeln.
    Wieder dachte sie an Ishida und fragte sich, ob Sanftmut und Mitgefühl wohl erlernbar waren und sie diese Dinge von ihm übernommen hatte. Dann kam ihr das andere, bedeutendere Geheimnis wieder in den Sinn, welches sie mit sich herumtrug. Wo war ihr Gehorsam damals nur gewesen?
    Tanabata, das Sternenfest, fiel auf einen regnerischen Abend und die Kinder waren bestürzt, weil die Elstern bei Bewölkung doch gar keine Brücke über den Himmel schlagen konnten, auf der die Prinzessin zu ihrem Liebsten gelangte. Sie würde die Chance, ihn zu sehen, verpassen und ein weiteres Jahr von ihm getrennt sein.
    Shizuka nahm es als ein böses Omen und ihre Niedergeschlagenheit nahm zu.
    Hin und wieder kamen Boten aus Yamagata und von noch weiter her. Sie brachten Nachrichten von Takeos und Kaedes Heirat, von ihrer Flucht aus Terayama, der Brücke der Ausgestoßenen und vom Sieg über Jin-emon. Die Mädchen staunten über diese Geschichten, die ihnen vorkamen wie alte Legenden, und dachten sich Lieder dazu aus. Kenji und Shizuka besprachen die Neuigkeiten des Nachts, beide mit derselben Mischung aus Entsetzen und unwillkürlicher Bewunderung. Dann zog das junge Paar mit seiner Armee in Maruyama ein und der Nachrichtenstrom brach ab; nur über Takeos Kampf gegen den Stamm war von Zeit zu Zeit etwas zu hören.
    »Offenbar hat er doch noch gelernt, unnachgiebig zu sein«, bemerkte ihr Onkel, aber dann redeten sie nicht weiter darüber. Kenji war mit anderen Dingen beschäftigt. Er sprach nicht mehr von Yuki, aber als der siebte Monat vergangen war und sie immer noch keine Nachricht von ihr hatten, brach im Haus eine Zeit des Wartens an. Alle waren in Sorge um dieses Mutokind, das erste Enkelkind des Meisters, das die Kikuta für sich beanspruchten und selbst aufziehen würden.
    Eines Nachmittags, kurz vor dem Totenfest, stieg Shizuka hinauf zum Wasserfall. Es war ein drückend heißer Tag, ohne eine Brise Wind, und sie saß da, die Füße ins kühle Wasser getaucht. Weiß schäumte das herabstürzende Wasser vor den grauen Felsen und die Gischt fing Regenbögen ein. In den Zedern schrillten die Zikaden und zerrten an Shizukas Nerven. Über

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