Der Glanz des Mondes
Hitze war ihr, als müsste sie bis ins Mark gefrieren. »Warum? Wie konnten sie so etwas nur tun?«
»Sie hatten kein Vertrauen, dass sie das Kind von Takeo fern halten und so erziehen würde, dass es für seinen Vater Hass empfindet.«
Shizuka hatte geglaubt, dass der Stamm sie mit nichts schockieren konnte, doch diese Nachricht ließ ihr fast das Herz stillstehen und verschlug ihr die Sprache.
»Wer weiß, vielleicht wollten sie auch mich damit bestrafen«, fuhr er fort. »Meine Frau macht mir Vorwürfe: dass ich Takeo nicht selbst verfolgt habe, dass ich nichts von Shigerus Aufzeichnungen wusste, dass ich Yuki verzogen hätte, als sie ein Kind war.«
»Sprich jetzt nicht davon«, sagte sie. »Du darfst dir nicht solche Schuldgefühle machen.«
Sein Blick schweifte in die Ferne. Sie fragte sich, woran er wohl dachte.
»Sie hätten sie nicht umbringen müssen«, sagte er. »Das werde ich ihnen nie verzeihen.« Seine Stimme brach, und obwohl jeder Muskel in seinem Gesicht angespannt war, fielen die Tränen nun doch.
Das Fest der Toten wurde feierlicher und mit mehr Kummer begangen als sonst. Speiseopfer wurden in den Bergschreinen niedergelegt und Feuer auf den Gipfeln entzündet, um den Weg zurück ins Totenreich zu beleuchten. Doch die Toten schienen sich zu sträuben umzukehren. Sie wollten bei den Lebenden bleiben, sie wieder und wieder daran erinnern, wie sie gestorben waren, verlangten nach Reue und Rache.
Kenji und seine Frau waren einander kein Trost, schafften es nicht, wenigstens im Schmerz zusammenzustehen, und gaben sich gegenseitig die Schuld an Yukis Tod. Shizuka verbrachte viele Stunden mit ihnen, stets ohne den jeweils anderen, und konnte ihnen nicht mehr geben als den Trost ihrer Anwesenheit. Ihre Großmutter braute Seiko Beruhigungstees und sie schlief lange und viel, aber Kenji lehnte jede Betäubung seines Kummers ab. Oft saß Shizuka bis spät in die Nacht hinein bei ihm und hörte ihm zu, wie er von seiner Tochter erzählte.
»Ich habe sie erzogen wie einen Sohn«, sagte er eines Nachts. »Sie war so begabt. Und unerschrocken. Meine Frau meint, ich hätte ihr zu viele Freiheiten gelassen. Sie macht mir Vorwürfe, weil ich sie wie einen Jungen behandelt habe. Yuki wurde zu selbstständig; sie dachte, sie könnte alles. Doch letzten Endes ist sie gestorben, weil sie eine Frau war.« Nach einer Weile fügte er hinzu: »Wahrscheinlich die einzige Frau, die ich jemals wirklich geliebt habe.« In einer spontan zärtlichen Geste streckte er seine Hand nach ihr aus und berührte ihren Arm. »Verzeih mir. Dich mag ich natürlich sehr.«
»So wie ich dich«, erwiderte sie. »Ich wünschte, dass ich deinen Schmerz irgendwie lindern könnte.«
»Nichts kann ihn lindern«, sagte er. »Ich werde nie darüber hinwegkommen. Ich muss ihr entweder in den Tod folgen oder damit leben, jeder muss schließlich mit seinen Kümmernissen leben. Und bis dahin…« Er stieß einen tiefen Seufzer aus.
Die restlichen Hausbewohner hatten sich bereits zurückgezogen. Es war ein wenig kühler und die Wandschirme standen weit offen, um die leichte Brise hereinzulassen, die ab und an von den Bergen herunterkam. Neben Kenji brannte eine einzige Lampe. Shizuka rückte ein wenig näher, um sein Gesicht besser erkennen zu können.
»Und bis dahin?«, ermunterte sie ihn.
Er schien das Thema zu wechseln. »Ich habe Shigeru den Kikuta geopfert, um der Einigkeit willen. Nun haben sie mir auch noch meine Tochter genommen.« Wieder verfiel er in Schweigen.
»Was hast du vor?«
»Der Junge ist mein Enkelsohn - der einzige, den ich je haben werde. Es fällt mir schwer zu akzeptieren, dass er für die Muto für immer verloren sein wird. Und ich denke, dass auch sein Vater ein gewisses Interesse an ihm haben wird, so wie ich Takeo kenne. Ich habe schon früher gesagt, dass ich nichts zu Takeos Tod beitragen werde, was zum Teil der Grund dafür gewesen ist, mich den ganzen Sommer über hier zu verstecken. Nun werde ich einen Schritt weiter gehen: Ich möchte, dass die Mutofamilie einen Pakt mit ihm schließt, einen Waffenstillstand.«
»Um sich gegen die Kikuta zu verbünden?«
»Ich werde nie wieder etwas tun, was in ihrem Sinne ist. Wenn Takeo sie zerstören kann, werde ich ihm dabei mit all meinen Kräften zur Seite stehen.«
In seinen Augen las sie die Hoffnung, dass Takeo ihm die Rache verschaffen würde, nach der er sich sehnte. »Du wirst den Stamm vernichten«, flüsterte sie.
»Wir vernichten uns bereits selbst«,
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