Der Glanz des Mondes
dem monotonen Gesang der Insekten hörte sie, wie sich ihr jüngerer Sohn heranpirschte, obwohl sie so tat, als hätte sie nichts bemerkt. Erst im letzten Moment, als sie das Gefühl hatte, dass er sie überraschen wollte, streckte sie die Hand aus, packte ihn an den Kniekehlen und zog ihn auf ihren Schoß.
»Du hast mich gehört«, beschwerte er sich enttäuscht.
»Du warst ja auch lauter als ein Wildschwein.«
»War ich nicht!«
»Vielleicht habe ich ja etwas vom Gehör der Kikuta geerbt«, neckte sie ihn.
»Ich habe das!«
»Das weiß ich. Und ich denke, dass es noch viel besser sein wird, wenn du älter bist.« Sie öffnete seine Faust und fuhr die gerade Linie entlang, die quer über die Innenfläche seiner Hand verlief. »Du und ich, wir haben dieselben Hände.«
»Wie die von Takeo«, sagte er stolz.
»Was weißt du denn von Takeo?«, erkundigte sie sich lächelnd.
»Er ist auch ein Kikuta. Onkel Kenji hat uns von ihm erzählt: dass er Dinge tun kann, die kein anderer kann, obwohl es fast unmöglich war, ihn zu unterrichten, sagt er.« Er schwieg einen Moment und fügte dann leise hinzu: »Ich wünschte, wir müssten ihn nicht töten.«
»Woher hast du das denn? Auch von Onkel Kenji?«
»Das habe ich gehört. Ich höre viele Dinge. Die Leute merken gar nicht, dass ich da bin.«
»Sollst du mich abholen?«, fragte sie und nahm sich vor, im Haus ihrer Großeltern künftig keine Geheimnisse auszuplaudern, ohne zuvor zu kontrollieren, wo ihr Sohn sich gerade aufhielt.
»Eigentlich nicht. Niemand hat mich geschickt, aber ich finde, du solltest nach Hause kommen.«
»Was ist geschehen?«
»Tante Seiko ist da. Sie ist sehr unglücklich. Und Onkel Kenji…« Taku hielt inne und starrte sie an. »So habe ich ihn noch nie erlebt…«
Es geht um Yuki, dachte sie sofort. Eilig stand sie auf und zog sich ihre Sandalen über. Ihr Herz pochte und ihr Mund war ganz trocken. Wenn ihre Tante gekommen war, konnte es nichts Gutes bedeuten - nur das Schlimmste.
Ihre Sorge bestätigte sich durch die Dunstglocke aus Trauer, die über dem ganzen Dorf zu hängen schien. Die Gesichter der Wachen waren blass, und es wurde weder gelächelt noch gescherzt. Sie machte gar nicht erst Halt, um die beiden auszufragen, sondern hastete sofort weiter zum Haus ihrer Großeltern. Die Dorffrauen waren bereits versammelt, hatten weder die Feuer entzündet noch das Abendessen gekocht. Sie drängte sich zwischen ihnen hindurch und hörte gemurmelte Worte des Mitgefühls und Beileids. Drinnen kniete ihre Tante, Kenjis Frau, an der Seite ihrer Großmutter am Boden, umringt von den Mädchen. Ihr Gesicht war von Kummer gezeichnet, ihre Augen rot, ihr ganzer Körper von Schluchzern geschüttelt.
»Tante!« Shizuka kniete sich vor sie hin und verneigte sich tief. »Was ist geschehen?«
Seiko ergriff ihre Hand und drückte sie fest, aber sie brachte kein Wort heraus.
»Yuki ist gestorben«, sagte die Großmutter leise.
»Und das Baby?«
»Dem Baby geht es gut. Es ist ein Junge.«
»Es tut mir so Leid«, sagte Shizuka. »Eine Geburt…«
Ihre Tante schluchzte laut auf.
»Es lag nicht an der Geburt«, fuhr die Alte fort. Sie schloss Seiko in ihre Arme und wiegte sie wie ein Kind.
»Wo ist mein Onkel?«
»Nebenan, bei seinem Vater. Geh hinein zu ihm. Vielleicht kannst du ihn trösten.«
Shizuka erhob sich und ging schweigend in den Nebenraum. Sie spürte, wie die ungeweinten Tränen in ihren Augen brannten.
Kenji saß reglos neben seinem Vater im Halbdunkel des Zimmers. Sämtliche Läden waren geschlossen und es war stickig. Dem Alten liefen die Tränen über das Gesicht; von Zeit zu Zeit hob er den Ärmel, um sie fortzuwischen, doch Kenjis Augen waren trocken.
»Onkel«, flüsterte sie.
Eine ganze Weile bewegte er sich nicht. Sie kniete schweigend nieder. Da wandte er den Kopf und sah sie an.
»Shizuka«, sagte er. Seine Augen begannen zu glänzen, als sie sich mit Tränen füllten, ohne dass er sie vergoss. »Meine Frau ist hier. Hast du sie gesehen?«
Shizuka nickte.
»Unsere Tochter ist tot.«
»Das sind furchtbare Neuigkeiten«, sagte sie. »Es tut mir so Leid für euch.« Die Sätze erschienen ihr unnütz und sinnlos.
Er sprach nicht weiter. Schließlich wagte sie es nachzufragen. »Wie ist es geschehen?«
»Die Kikuta haben sie umgebracht. Sie haben sie gezwungen Gift zu nehmen.« So, wie er es sagte, klang es, als könnte er seinen eigenen Worten nicht glauben.
Shizuka konnte es selbst nicht. Trotz der drückenden
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