Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Glanz des Mondes

Der Glanz des Mondes

Titel: Der Glanz des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
Vom Netzwerk:
neu und richteten, die glatten Äste des Ahorns nutzend, ein System aus Flaschenzügen ein. Langsam, mühevoll, zogen sie die Flöße heran, ihre Oberkörper hoben und senkten sich, ihre Muskeln traten hervor wie straff gespannte Seile. Der Fluss zerrte an der schwimmenden Brücke, wie aus Wut über ihr Eindringen in sein Territorium, doch die Männer blieben hartnäckig und die Flöße, federnd und stabil durch ihre Schilfrohrkissen, reagierten wie geduldige Ochsen und rückten Zentimeter um Zentimeter näher.
    An einer Seite hatte sich die schwimmende Brücke auf Grund der Strömung in den verbliebenen Pfeilern verkeilt, sonst hätte der Fluss wohl doch den Sieg davongetragen. Sie schien mir so gut wie fertig zu sein, doch von Makotos Rückkehr samt den Kriegern war noch immer nichts zu sehen. Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren und die dunklen Wolken hingen zu tief, um die Position der Sonne zu bestimmen, doch ich schätzte, dass mindestens eine Stunde vergangen sein musste. War es Makoto etwa nicht gelungen die anderen zu überzeugen? Waren sie nach Yamagata zurückgekehrt, wie er es vorgeschlagen hatte? Bester Freund hin oder her, in diesem Fall würde ich ihn eigenhändig umbringen. Ich lauschte angestrengt, doch meine Ohren vernahmen nichts als den Fluss, den Regen und die Frösche.
    Jenseits des Schreins tauchte die überschwemmte Straße aus den Fluten auf. Dahinter konnte ich die Berge sehen, an deren Hängen weiße Nebelstreifen hingen wie Papierschlangen. Mein Pferd zitterte. Zum Aufwärmen musste ich ihm ein bisschen Bewegung verschaffen, denn es abzureiben wäre bei diesem Wetter völlig zwecklos gewesen. Ich stieg auf und ritt ein Stück die Straße entlang; von weiter oben würde ich auch den Fluss besser überblicken können.
    Nicht weit entfernt stand eine Art Hütte aus Holz und Lehm, deren Dach notdürftig mit Schilf gedeckt war. Neben ihr riegelte ein hölzerner Schlagbaum die Straße ab. Ich fragte mich, was es damit auf sich hatte: Die Hütte wirkte nicht gerade wie der offizielle Grenzposten eines Lehens und er schien auch nicht bewacht zu sein.
    Ich ritt näher heran und sah, dass mehrere Köpfe am Grenzbaum hingen, einige von kürzlich Enthaupteten, von anderen dagegen war kaum mehr übrig als der Schädel. Mir blieb keine Zeit Abscheu zu empfinden, denn von hinten hörte ich endlich das so lang ersehnte Geräusch: Getrampel von Pferden und Männern vom gegenüberliegenden Flussufer. Ich drehte mich um und sah durch den Regenschleier, wie die Vorhut meiner Armee aus dem Wald auftauchte und durch das aufspritzende Wasser auf die Brücke zusprengte. Ich erkannte Kahei an seinem Helm. Er ritt an der Spitze, mit Makoto an seiner Seite.
    Mein Brustkorb weitete sich vor Erleichterung. Ich wendete Aoi; er erkannte die entfernten Umrisse seiner Gefährten und stieß ein lautes Wiehern aus. Die prompte Antwort war ein gewaltiger Aufschrei aus dem Inneren der Hütte. Der Boden erzitterte, als die Tür aufflog und der größte Mann heraustrat, den ich je gesehen hatte, noch riesenhafter sogar als der Hüne bei den Köhlern.
    Mein erster Gedanke war, dass ich ein Ungeheuer oder einen Dämon vor mir hatte. Die Länge seines Körpers betrug nahezu zwei Armspannweiten und er war breit wie ein Ochse, wobei sein Kopf trotz seiner gewaltigen Körpermaße viel zu groß geraten schien, als hätte der Schädel nie aufgehört zu wachsen. Sein Haar war lang und verfilzt, er trug einen dichten, drahtigen Vollbart und die Form seiner Augen wirkte nicht menschlich, sondern rund wie die eines Tieres. Er besaß nur ein einziges Ohr, das wie ein Pendel herabhing. An der Stelle, wo das andere Ohr gesessen hatte, schimmerte eine blaugraue Narbe durch das Haar. Als er zu mir herüberschrie, klangen seine Worte allerdings einigermaßen menschlich.
    »Hee da!«, brüllte er mit seiner gewaltigen Stimme. »Was hast du hier auf meiner Straße zu suchen?«
    »Ich bin Otori Takeo«, erwiderte ich. »Und ich geleite meine Armee hier durch. Öffne den Schlagbaum!«
    Er lachte und es klang wie das Donnern von Geröllbrocken, die einen Berghang hinabstürzten. »Niemand kommt hier durch, wenn Jin-emon es nicht erlaubt. Geh und sag das deiner Armee!«
    Der Regen war heftiger geworden; der Tag verlor immer rascher an Licht. Ich war erschöpft, hungrig, nass und fror. »Gib die Straße frei!«, rief ich ungeduldig. »Wir werden passieren.«
    Ohne eine Antwort schritt er auf mich zu. Er trug eine Waffe bei sich, hielt sie aber

Weitere Kostenlose Bücher