Der Glanz des Mondes
freundschaftliche Bande untereinander geknüpft hatten. Formal hielten diese Kriegerfamilien Kumamoto oder Maruyama die Treue, aber sie zogen nicht in die befestigten Städte, sondern lebten lieber auf ihren eigenen Ländereien und bewirtschafteten sie, wofür sie nur sehr wenig Steuern zahlten, an wen auch immer.
»Ich habe den Shirakawafluss noch nie überquert«, sagte Hiroshi, als die Pferde durch das Wasser platschten. »Und ich war noch nie so weit weg von Maruyama.«
»Dann kann ich dir jetzt ein paar Dinge erklären«, sagte Kaede, die sich freute, ihm einige markante Punkte ihres Landes zu zeigen. »Später werde ich dich zur Quelle des Flusses führen, zu den großen Höhlen, aber dort wirst du draußen warten müssen.«
»Weshalb?«, wollte er wissen.
»Es ist ein heiliger Ort für Frauen. Männer sind nicht befugt ihn zu betreten.«
Sie hatte es nun eilig nach Hause zu kommen und ließ unterwegs nirgends anhalten, schaute jedoch überall genau hin: welchen Eindruck das Land machte, wie weit die Ernte gediehen war, wie die körperliche Verfassung der Kinder und die der Ochsen war. Im Vergleich zum Vorjahr, als sie mit Shizuka hergekommen war, hatte sich so manches verbessert, doch es gab immer noch viele Anzeichen von Armut und Verwahrlosung.
Ich habe die Menschen hier im Stich gelassen, dachte sie schuldbewusst. Ich hätte früher nach Hause kommen sollen. Sie dachte an ihre überstürzte Flucht nach Terayama im Frühjahr. Damals musste sie eine andere Person gewesen sein, verhext.
Amano hatte zwei der Männer vorausgeschickt und Shoji Kiyoshi, der älteste Gefolgsmann der Domäne, erwartete Kaede bereits am Tor ihres Hauses. Er begrüßte sie mit einigem Erstaunen und, wie sie fand, recht kühl. Die Dienerinnen, die die Hausarbeit besorgten, hatten im Garten Aufstellung genommen, doch von Kaedes Schwestern oder von Ayame war weit und breit nichts zu sehen.
Raku wieherte und wandte den Kopf in die Richtung der Ställe und Wiesen, über die er im Winter hinweggaloppiert war. Amano trat vor, um ihr beim Absitzen behilflich zu sein. Hiroshi glitt vom Rücken des Rotschimmels, der das Pferd neben sich zu treten versuchte.
»Wo sind meine Schwestern?«, fragte Kaede ungeduldig, wobei sie die gemurmelte Begrüßung der Frauen mit einer raschen Handbewegung abtat.
Niemand antwortete. Vom Kampferbaum am Tor erscholl der durchdringende Ruf eines Raubwürgers, das Geschrei des Vogels zerrte an Kaedes Nerven.
»Lady Shirakawa…«, begann Shoji.
Sie fuhr herum und sah ihn an. »Wo sind sie?«
»Man hat uns gesagt…. Sie hätten ihnen die Anweisung zukommen lassen, Lord Fujiwara aufzusuchen.«
»Ich habe nichts dergleichen getan! Wie lange sind sie nun schon bei ihm?«
»Seit mindestens zwei Monaten.« Er warf einen Seitenblick auf die Reiter und das Personal. »Wir sollten uns unter vier Augen unterhalten.«
»Ja, umgehend«, stimmte sie zu.
Eine der Frauen kam mit einer Wasserschüssel auf sie zugeeilt.
»Willkommen zu Hause, Lady Shirakawa!«
Kaede wusch sich die Füße und betrat die Veranda. Ein ungutes Gefühl beschlich sie. Im Haus herrschte beklemmende Stille. Sie sehnte die Stimmen von Hana und Ai herbei; erst jetzt wurde ihr bewusst, wie sehr sie sie vermisst hatte.
Es war kurz nach Mittag. Sie gab Anweisung, den Männern etwas zu essen zu geben und die Pferde zu tränken, alle sollten bereit sein, falls sie sie benötigte. Sie brachte Hiroshi in ihr eigenes Zimmer und wies ihn an, mit den Aufzeichnungen dort zu bleiben, während sie mit Shoji redete. Sie selbst verspürte überhaupt keinen Hunger, doch sie sorgte dafür, dass die Frauen dem Jungen etwas brachten. Dann begab sie sich in das alte Zimmer ihres Vaters und ließ Shoji holen.
Der Raum erweckte den Eindruck, als sei er kürzlich erst verlassen worden. Auf dem Schreibtisch lag ein Pinsel - offensichtlich hatte Hana ihre Übungen auch nach Kaedes Abreise fortgesetzt. Sie nahm den Pinsel in die Hand und starrte ihn teilnahmslos an, als Shoji an der Tür klopfte.
Er trat ein und fiel vor ihr auf die Knie. »Wir hatten keine Ahnung, dass Sie es nicht wünschten«, entschuldigte er sich. »Es erschien uns so überzeugend. Lord Fujiwara selbst war hier und unterhielt sich mit Ai.«
Sie vermeinte Unaufrichtigkeit in seiner Stimme wahrzunehmen. »Warum hat er die beiden eingeladen? Was wollte er von ihnen?« Ihre eigene Stimme zitterte.
»Sie haben ihn doch selbst häufig besucht«, entgegnete Shoji.
»Seitdem hat sich alles
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