Der Glanz des Mondes
Neffe?«, fragte sie Sugita, um sich Ablenkung zu verschaffen. »Schickt ihn zu mir. Lasst mich jemanden ansehen, der unter dreißig ist!«
Hiroshi war ein kaum besserer Gesellschafter, weil er ebenso wie Kaede verärgert war, dass man ihn zurückgelassen hatte. Er hatte gehofft, Kahei und Gemba nach Inuyama begleiten zu dürfen.
»Sie kennen nicht einmal die Straße«, murrte er. »Ich hätte ihnen alles gezeigt. Stattdessen muss ich hier bleiben und mich von meinem Onkel unterrichten lassen. Sogar Jiro durfte mit Lord Otori gehen.«
»Jiro ist viel älter als du«, sagte Kaede.
»Nur fünf Jahre. Und er ist derjenige, der etwas lernen sollte. Ich kenne schon viel mehr Schriftzeichen als er.«
»Weil du früher angefangen hast. Du solltest andere niemals verachten, weil sie nicht dieselben Möglichkeiten hatten wie du.« Sie musterte ihn. Er war ein wenig klein für sein Alter, aber kräftig und gut gebaut. Aus ihm würde ein gut aussehender Mann werden. »Du bist etwa so alt wie meine Schwester«, sagte sie.
»Sieht Ihre Schwester aus wie Sie?«
»So heißt es. Ich halte sie für hübscher.«
»Das ist vollkommen unmöglich«, sagte er hastig, was sie zum Lachen brachte. Sein Gesicht errötete leicht. »Alle sagen, dass Lady Otori die schönste Frau in den Drei Ländern ist.«
»Was haben die Leute denn schon gesehen?«, gab sie zurück. »In der Hauptstadt, am Hof des Kaisers, gibt es Frauen von solcher Schönheit, dass die Augen der Männer verkümmern, wenn sie sie ansehen. Man verbirgt diese Frauen hinter Wandschirmen, um zu verhindern, dass der gesamte Hofstaat erblindet.«
»Und was tun ihre Ehemänner?«, fragte er ungläubig.
»Sie müssen Augenbinden tragen«, neckte sie ihn und warf ihm ein Tuch über, das neben ihr gelegen hatte. Einen kurzen Moment hielt sie ihn aus Spaß fest, dann entzog er sich ihr, merklich verärgert. Sie hatte ihn behandelt wie ein Kind und er wollte ein Mann sein.
»Mädchen haben das Glück, nicht lernen zu müssen«, sagte er.
»Aber meine Schwester liebt es, zu lernen, und ich ebenfalls. Mädchen sollten lesen und schreiben können, genau wie Jungen. Dann können sie ihren Männern helfen, so wie ich meinem helfe.«
»Für solche Sachen haben die meisten Leute doch Schreiber, besonders wenn sie selbst nicht schreiben können.«
»Mein Mann kann aber schreiben«, erwiderte sie prompt. »Und er hat später angefangen es zu lernen als du, genau wie Jiro.«
Hiroshis Miene wirkte erschrocken. »Es war nicht meine Absicht, etwas gegen ihn zu sagen! Lord Otori hat mir das Leben gerettet und den Tod meines Vaters gerächt. Ich verdanke ihm alles, aber…«
»Aber was?«, schoss sie zurück, einen Anflug von Illoyalität wahrnehmend, der Unbehagen bei ihr auslöste.
»Ich sage Ihnen ja nur, wie die Leute so über ihn reden«, fuhr Hiroshi fort. »Man hält ihn für seltsam. Er gibt sich mit Ausgestoßenen ab; er lässt Bauern in die Schlacht ziehen; er hat einen Kampf gegen eine Gruppe von Kaufleuten begonnen, den niemand nachvollziehen kann. Es heißt, er kann unmöglich als Krieger erzogen worden sein, und man fragt sich, welche Erziehung er wohl genossen hat.«
»Wer sagt das? Leute aus der Stadt?«
»Nein, Leute wie meine Familie.«
»Krieger aus Maruyama?«
»Ja, und manche behaupten, er verstünde sich auf Hexenkünste.«
Es konnte sie kaum erstaunen; es waren genau die Dinge, die sie selbst an Takeo beunruhigten, doch die Vorstellung, dass ihre Krieger sich Takeo gegenüber so illoyal verhielten, schockierte sie.
»Mag sein, dass seine Erziehung ein wenig ungewöhnlich war«, sagte sie, »aber er ist der Erbe des Otoriclans, durch Blutsbande und durch Adoption, und im Übrigen ist er mein Mann. Niemand hat das Recht, irgendetwas gegen ihn zu sagen.« Sie würde herausfinden, wer diese Gerüchte in Umlauf gebracht hatte, und diejenigen zum Schweigen bringen. »Du wirst mein Spion sein«, sagte sie zu Hiroshi. »Melde mir jeden, der auch nur die geringsten Anzeichen von Abtrünnigkeit zeigt.«
Von da an kam Hiroshi jeden Tag, zeigte ihr, was er bereits gelernt hatte, und berichtete, was unter den Kriegern so geredet wurde. Es war nichts Bestimmtes, nur Tratsch, zuweilen Scherze, wohl nichts weiter als das leere Geschwätz von Männern, denen es an Beschäftigung mangelte. Sie entschied, zunächst nichts dagegen zu unternehmen, Takeo jedoch zu warnen, sobald er zurückkehrte.
Die große Hitzeperiode brach an und es wurde zu schwül, um auszureiten. Da
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