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Der Glanz des Mondes

Der Glanz des Mondes

Titel: Der Glanz des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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Flusses übertönte alle anderen Geräusche. Vorsichtig traten sie von Stein zu Stein, vorbei am Riesenpilz, am gefrorenen Wasserfall, an der Himmelsleiter - Figuren, die das kalkhaltige Wasser geschaffen hatte -, bis sie den Felsen erreichten, der die Gestalt der Göttin hatte. Tropfen fielen von ihr herab, wie Tränen aus Muttermilch.
    »Ich muss die Göttin darum bitten, diese Schätze für mich zu hüten«, sagte Kaede. »Wenn ich nicht selbst komme, um sie abzuholen, müssen sie für immer hier bei ihr bleiben.«
    Die alte Frau nickte und verneigte sich. Hinter dem Felsen war eine Aushöhlung ins Gestein geschlagen worden, ein gutes Stück oberhalb der höchsten Wassermarke. Sie kletterten hoch und stellten die Kästen hinein. Kaede sah, dass sie bereits viele andere Gegenstände enthielt, die der Göttin übergeben worden waren. Sie fragte sich, was es mit ihnen wohl auf sich hatte und was aus den Frauen geworden war, die sie dort abgestellt hatten. Ein feuchter, uralter Geruch hing in der Luft. Manche der Dinge waren am Zerfallen; einiges war bereits zerstört. Würden die Aufzeichnungen über den Stamm hier, versteckt im Inneren des Berges, verrotten?
    Die Luft war kalt und klamm und ließ sie frösteln. Als sie die Kiste abstellte, fühlten sich ihre Arme plötzlich leer und leicht an. Die Gewissheit kam über sie, dass die Göttin ihre Sehnsüchte kannte - dass ihre leeren Arme, ihr leerer Schoß sich füllen würden.
    Sie kniete vor dem Felsblock und schöpfte das Wasser, das sich in der Mulde an seinem Fuß gesammelt hatte. Während sie trank, betete sie, fast wortlos. Das Wasser schmeckte weich wie Milch.
    Die alte Frau, die hinter ihr kniete, stimmte ein Gebet an, aus so alter Zeit, dass Kaede die Worte nicht erkannte, deren Bedeutung jedoch wie eine Welle über sie hereinbrach und sich mit ihren eigenen Sehnsüchten mischte. Die Gestalt aus Felsgestein besaß keine Augen, keine Gesichtszüge, und doch spürte Kaede den gütigen Blick der Göttin auf sich ruhen. Sie erinnerte sich an die Erscheinung, die sie in Terayama gehabt hatte, und an die Worte jener Stimme: Hab Geduld. Er wird dich holen.
    Wieder konnte sie die Worte deutlich hören und fühlte sich einen Moment lang von ihnen verwirrt. Dann glaubte sie, ihre Bedeutung zu begreifen: Er würde zurückkommen. Natürlich wird er das, ich werde geduldig sein, schwor sie sich wieder. Sobald meine Schwestern eintreffen, werden wir sofort nach Maruyama aufbrechen. Und wenn Takeo zurückkehrt, werde ich ein Kind empfangen. Es war die richtige Entscheidung herzukommen.
    Der Besuch in den Höhlen hatte sie so gestärkt, dass sie, als der Nachmittag sich dem Ende zuneigte, zum Familientempel ging, um dem Grab ihres Vaters ihre Ehre zu erweisen. Hiroshi begleitete sie, zusammen mit einer der Frauen des Hauses, Ayako, die Früchte und Reis als Opfergaben trug und eine Schale, aus der Schwaden von Weihrauch aufstiegen.
    Die Asche ihres Vaters lag bei den Gräbern von Kaedes Vorfahren, den Shirakawalords. Unter den riesigen Zedern war es düster und kühl. Der Wind rauschte in den Zweigen und trug das Gezirpe der Zikaden herüber. Über die Jahre hatten Erdbeben die Säulen und Stelen bewegt und der Erdboden wölbte sich, als ob die Toten versuchten zu entfliehen.
    Das Grab ihres Vaters war noch immer unversehrt. Kaede nahm Ayako die Opfergaben ab und legte sie vor dem Grabstein nieder. Sie klatschte in die Hände und senkte den Kopf. Sie fürchtete, seinen Geist zu hören oder zu sehen, und zugleich verspürte sie das Bedürfnis, ihn zu beschwichtigen. Der Gedanke an den Tod ihres Vaters erfüllte sie mit Unruhe. Er hatte sterben wollen, war aber nicht in der Lage gewesen, genügend Mut zum Selbstmord aufzubringen. Shizuka und Kondo hatten ihn getötet - war es ein Mord gewesen? Sie war sich bewusst, welchen Anteil sie selbst dazu beigetragen hatte, die Schande, die sie ihm bereitet hatte; würde sein Geist nun Tribut fordern?
    Kaede nahm Ayako die Schale mit dem schwelenden Weihrauch ab und ließ die Rauchschwaden über das Grab ziehen, dann über ihr Gesicht und ihre Hände, um sich zu reinigen. Sie stellte sie ab und klatschte weitere drei Male in die Hände. Der Wind legte sich, die Grillen verstummten und im selben Augenblick spürte sie, wie die Erde unter ihr leicht zu beben begann. Die Landschaft erzitterte. Die Bäume schwankten.
    »Ein Erdbeben!«, schrie Hiroshi hinter ihr, gleichzeitig stieß Ayako einen Angstschrei aus.
    Es war nur ein leichter

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