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Der Glanz des Mondes

Der Glanz des Mondes

Titel: Der Glanz des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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um Jiro vielleicht lindern würde.
    Als Hajime gefesselt war und sich nicht mehr rühren konnte, nahm ich Makoto beiseite, um ihn um Rat zu fragen. Ich hatte die ganze Zeit das Bild vor Augen, wie Hajime und ich gemeinsam trainiert hatten; wir waren fast Freunde gewesen. Aber so lautete der Kodex des Stamms: dass man jede persönliche Zuneigung oder Loyalität überging. Wusste ich dies nicht bereits aus eigener Erfahrung, durch Kenjis Verrat an Shigeru? Dennoch schockierte es mich immer wieder.
    »He, Hund!«, rief Hajime zu mir herüber.
    Einer der Männer versetzte ihm einen Tritt. »Wie kannst du es wagen, Lord Otori in dieser Weise anzusprechen!«
    »Komm her, Lord Otori«, sagte der Ringer spöttisch. »Ich habe dir etwas zu sagen.«
    Ich ging zu ihm.
    »Die Kikuta haben deinen Sohn«, sagte er. »Und seine Mutter ist tot.«
    »Yuki ist tot?«
    »Als der Junge geboren war, ließ man sie Gift nehmen. Aldo wird ihn allein aufziehen. Und die Kikuta werden dich schon noch zu fassen kriegen. Du hast den Stamm verraten; man wird dich niemals am Leben lassen. Und sie haben deinen Sohn.«
    Hajime gab ein knurrendes, fast tierisches Geräusch von sich, streckte seine Zunge in voller Länge heraus, klemmte sie sich zwischen die Zähne und biss sie mittendurch. Seine Augen rollten vor Schmerz und Wut, aber er gab keinen Laut mehr von sich. Er spuckte seine Zunge aus und es folgte ein Blutstrahl, der sich in seine Kehle ergoss und ihm den Atem nahm. Sein mächtiger Körper bog sich und kämpfte gegen den Tod an, den sein Wille ihm aufzwang, während er an seinem eigenen Blut erstickte.
    Ich wandte mich ab, angewidert und unendlich traurig. Meine Wut war verflogen. An ihre Stelle war eine bleierne Schwere getreten, als wäre der Himmel über meiner Seele eingebrochen. Ich wies die Männer an, ihn in den Wald zu ziehen, ihm den Kopf abzuschlagen und seine Leiche den Wölfen und Füchsen zu überlassen.
    Jiros Leiche nahmen wir mit. Auf dem Weg entlang der Küste machten wir in der kleinen Stadt Ohama Halt, hielten im dortigen Schrein die Begräbniszeremonie ab und erwarben eine Steinlaterne, die unter den Zedern für ihn aufgestellt wurde. Den Bogen und die Pfeile vermachten wir dem Schrein und ich glaube, sie hängen bis heute dort unter den Dachsparren, zusammen mit den Motivbildern der Pferde, denn die heilige Stätte war der Pferdegöttin gewidmet.
    Auch meine Pferde befinden sich unter diesen Bildern. Wir mussten fast zwei Wochen in der Stadt bleiben, zunächst wegen der Begräbniszeremonie und um uns selbst von der Verunreinigung des Todes zu säubern, und dann auf Grund des Totenfestes. Ich ging zum Priester, lieh mir Tuschstein und Pinsel und malte Shuns Bild auf eine Holztafel. Ich glaube, in dieses Bild floss nicht nur der Respekt vor meinem Pferd ein und meine Dankbarkeit, dass es mir ein weiteres Mal das Leben gerettet hatte, sondern auch meine Trauer um Jiro und Yuki sowie der Schmerz darüber, dass mein Lebensweg mich offenbar immer wieder zum Zeugen des Todes machte. Vielleicht auch meine Sehnsucht nach Kaede, die meinen Körper peinigte, da der Kummer meine Leidenschaft für sie erneut entfachte.
    Ich malte wie ein Besessener: Shun, Raku, Kyu, Aoi. Es war lange her, seit ich zum letzten Mal gemalt hatte, und der Pinsel in meiner Hand, das bedächtige Auftragen der Tusche hatten eine beruhigende Wirkung auf mich. Während ich allein in dem stillen Tempel saß, stellte ich mir vor, wie es wäre, wenn so mein ganzes restliches Leben verlaufen würde: Ich hatte mich von der Welt zurückgezogen und verbrachte meine Zeit damit, Votivtafeln für Pilger zu malen. Die Worte des Abts von Terayama kamen mir wieder in den Sinn, die er damals, vor so langer Zeit, gesagt hatte, als ich ihn zusammen mit Shigeru das erste Mal besuchte: Komm zu uns zurück, wenn das alles vorbei ist. Es wird hier immer einen Platz für dich geben.
    Wird es jemals vorbei sein?, fragte ich mich, genau wie damals.
    Oft merkte ich, wie mir die Tränen in die Augen schossen. Ich trauerte um Jiro und Yuki, um ihr kurzes Leben, dass sie mir, obwohl ich es nicht verdient hatte, so treu ergeben gewesen waren, dass sie für mich hatten sterben müssen. Ich wollte sie rächen, aber die Brutalität von Hajimes Selbstmord hatte mich abgestoßen. Was für einen endlosen Kreislauf von Tod und Rache hatte ich angestoßen? Ich erinnerte mich an all das, was Yuki und ich gemeinsam erlebt hatten, und bereute bitter… ja, was? Dass ich sie nicht geliebt hatte?

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