Der Glanz des Südsterns: Roman (German Edition)
Wichtigeres zu erledigen hast«, hörte Millie die weibliche Stimme antworten.
»Du hältst mich nicht auf. Ich will die Röntgenaufnahmen von Marcus sehen, sobald sie fertig sind, Elena«, sagte Lyle. »Das macht dir doch nichts aus, oder?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Dann wäre das ja geklärt.«
Millie erstarrte. Elena . Der Name katapultierte sie sofort vierzehn Jahre zurück. Sie musste sich gegen die Wand lehnen, auf einmal fühlte sie sich ganz schwach. Millie mochte kaum glauben, dass sie ihren Mann den Namen einer Frau hatte sagen hören, die er im Victoria Hospital in Blackpool kennengelernt hatte, es war sicher nur ein Zufall. Aber wieso duzten sie sich? Wieso nannten sie einander beim Vornamen?
Der Warteraum hatte zu beiden Seiten der Tür ein Glasfenster mit Vorhängen. Die Vorhänge waren zurückgezogen, sodass Millie, wenn sie aufpasste, ohne gesehen zu werden, einen Blick in den Raum werfen konnte. Sie sah Lyle und eine sehr attraktive dunkelhaarige Frau mit olivfarbenem Teint. Sie wusste, Schwester Elena aus dem Victoria Hospital war Italienerin gewesen.
Plötzlich war für Millie nichts mehr so, wie es schien. Lyle hatte sie verlassen, ohne ein Wort zu sagen, ohne einen Brief zu schreiben, hatte nicht gesagt, wohin er gehen wollte. Und hier war er nun, in Australien, mit einer Italienerin namens Elena. Millie versuchte, sich zusammenzureißen, als eine Schwester einen Rollstuhl mit einem Jungen über den Korridor in ihre Richtung schob. Sie führte den Jungen in den Warteraum.
»Hier haben Sie Ihren Sohn wieder, Mrs. Corradeo. Er kann genauso gut hier bei Ihnen warten, bis wir das Röntgengerät wieder in Gang bekommen. Tut uns sehr leid, diese Verzögerung. Ich habe ihm einen Rollstuhl besorgt, damit er sich nicht zu sehr anstrengt.«
»Danke, Schwester«, sagte Elena.
»Wird dir das Warten zu viel, Marcus?«, fragte Lyle den Jungen.
Millie hörte die Zärtlichkeit in seiner Stimme, und es zerriss ihr das Herz. Sie dachte an Jamie, der jetzt auch so alt wie dieser Junge gewesen wäre. Immer noch empfand sie die tiefe Verzweiflung, wenn sie daran dachte, wie gern Lyle Kinder mochte und dass sie ihm nicht noch ein Kind hatte schenken können.
»Nein. Es macht doch Spaß, mal was anderes zu tun als Hausaufgaben«, antwortete Marcus.
»Na ja, was für eine Antwort würde auch wohl sonst von einem Jungen kommen«, meinte Elena und lachte.
»Die Schwester hat mir erlaubt, dass ich mir den Röntgenapparat angucke, sie hat mir gezeigt, wie er funktioniert. Das war wirklich interessant, Mamma.«
»Vielleicht haben wir ja hier wirklich einen künftigen Arzt«, sagte Elena fröhlich. Millie hörte aus ihrer Stimme heraus, wie stolz sie auf ihren Sohn war.
»Einen künftigen Fliegenden Arzt, will ich doch hoffen, Marcus«, sagte Lyle zufrieden.
Millie wurde übel. Sie ging ein kleines Stück den Korridor hinunter in Richtung Schwesternzimmer, aber weiter trugen ihre Beine sie nicht. Wieder musste sie sich an die Wand lehnen. Sie war wie betäubt. Die Schwestern in ihrem Zimmer unterhielten sich, glücklicherweise nahm niemand Notiz von ihr.
»Wie kommt Marcus Corradeo denn zu der Beule am Kopf?«, hörte Millie jetzt eine Schwester die zuständige Kollegin fragen.
»Offenbar hatte er einen Krampfanfall in einem Pferdestall, und das verstörte Pferd hat ihn getreten. Er kann von Glück sagen, dass er noch am Leben ist«, antwortete die Schwester.
Millies Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. Dieser Junge hatte Krampfattacken wie Jamie damals? Wie konnte das sein? Millie wusste nicht, was sie denken sollte. Die Krampfanfälle, unter denen Jamie gelitten hatte, waren äußerst selten. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass der Sohn dieser Elena genau solche Anfälle hatte wie ihr Sohn? Millie fiel wieder ein, dass Lyle einmal von seinem Bruder Robbie erzählt hatte, der als Kind von Krampfattacken heimgesucht worden war. Betroffene waren oft Mitglieder ein und derselben Familie. Aber Marcus war doch kein Verwandter. Oder … vielleicht doch? Millie hielt den Atem an. Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Nein, das konnte doch nicht sein. Sie verwarf die Idee als absurd. Doch Elenas Sohn war etwa in Jamies Alter. Und hier war nun Lyle, in Australien, mit dem Jungen und dessen Mutter … Die Wahrheit traf Millie mit solcher Gewalt, dass sie sich beinahe übergeben hätte. Marcus war … Lyles Sohn … Sie musste mehrmals tief einatmen, um ihren revoltierenden Magen unter
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