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Der Glanzrappe

Der Glanzrappe

Titel: Der Glanzrappe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unknown
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es sein mußte, klaute er den Mais aus den Viehkrippen oder ein streunendes Huhn, einen Kuchen, der zum Abkühlen im Freien s tand, oder einen zum Räuchern aufgehängten Schinken, und wenn nichts von alledem zu finden war, ernährte er sich von Beeren und wildem Lauch, aß Brunnenkresse und trank Eicheltee.
    Er verließ das Tal in östlicher Richtung und kam in eine Gegend, wo sich Berge auf Berge türmten und schreckliche Winde um die wolkenumkränzten Gipfel tosten, die ihn zu rufen schienen. Und er dachte, eines Tages würde er gern zu ihnen zurückkehren, sich einen Weg durch die luftigen Nebel suchen und auf der Bergspitze stehen.
    Es gab wunderschöne Momente der Einsamkeit. Er folgte dem Rotwild in die Bergschluchten, wo dreißig oder fünfzig Stück davon wie Rinder grasten. Er sah Gewässer mit so vielen Fischen darin, daß sie einander im gleißenden Sonnenlicht auf den Rücken stiegen und ihre Brut ins Maul nahmen. Auf seinem Weg lagen Gutshäuser, die weder vom Krieg berührt worden waren noch von der Nachricht vom Krieg und deren beleuchtete Fenster die Nacht erhellten. Er sah winzige, in enge Täler eingebettete Dörfer, ordentliche Farmen und Häuser, die mit viel Aufwand herausgeputzt waren.
    Eines Abends vernahm er im Zwielicht zwischen den Bäumen Orgelmusik und roch den schweren Duft aufgeplatzter Kiefernpollen. Irgendwo hatten sich Menschen zu einem Gottesdienst versammelt, und ihre Choralstimmen erfüllten das Dunkel. Seine Mutter war gläubig, doch sein Vater war Freidenker und sagte immer, wenn man ein Stück Seife habe, könnte eine Taufe ganz nützlich sein. Er vermutete, daß sein eigener Glaube zwischen dem seiner Mutter und dem seines Vaters lag. Neugierig dirigierte er das Pferd in Richtung des Gesangs und meinte s chon fast, bei der Quelle angekommen zu sein, als der Gesang schwächer wurde und ebenso rätselhaft wieder verschwand, wie er zuvor an sein Ohr gedrungen war, und er fragte sich, was das wohl gewesen sein mochte.
    Er ritt weiter, bis er zu einer Stelle kam, wo vor langer Zeit ein Pferd in einem Felsspalt hängengeblieben war. Auf seinen weißen Rippen wuchs Moos, um die Beine rankte Efeu, und der Schädel war von Kriechpflanzen mit weißen Blüten bekränzt. Das Pferd mußte in den Spalt gerutscht und nicht mehr herausgekommen sein, und wenn der Wind aus einer bestimmten Richtung wehte, ertönte Musik aus seinen bleichen Knochen.
     
    DAS GESICHT ABWECHSELND VOM WIND gegerbt und von der Sonne verbrannt, die Glieder gefühllos vor Kälte oder erschlafft vor Hitze, war er hinabgestiegen in das weite Grün des nordöstlichen Tals, hatte die Kette der Blue Mountains überquert und war wieder hinuntergeritten auf die mit Kiefern bewaldete Ebene, wo die Luft unter der Hitze und ihrem eigenen Gewicht zitterte und bebte. Seine Mutter hatte gesagt, er solle weiter das Tal hinaufreiten, aber nach allem, was er gehört hatte, würde er im Osten auf die Armee treffen.
    Mittlerweile war er eins geworden mit dem Pferd, waren seine Kleider und seine Beine vom Schweiß des Tiers durchdrungen. Und auch seine Hände, mit denen er sich übers Gesicht strich oder durchs Haar fuhr, waren naß davon, und er konnte sich nicht vorstellen, sich jemals wieder von diesem Juwel zu trennen. Das Pferd hatte Macht über sein Wachen und seinen Schlaf. Er träumte von ihm, und wenn er schlief, wurden aus einem Pferd m ehrere, so viele, daß er sie nicht mehr zählen konnte. Glanzrappen waren die ersten und einzigen Pferde überhaupt. Sie waren keine Pferde, sie waren anders, eine Art menschenfressende Tiere, wie Löwen oder Bären oder Wölfe, oder wie der Mensch selbst. Nur waren sie unverwechselbarer, von edlerem Geblüt, einzigartig in ihrem Willen und ihrer Entschlossenheit. Wenn sie rannten, dann in einem herrlichen Kranz aus Weiß, der mit jedem Federn ihrer Rippen die Erde unter ihnen und die Luft über ihnen zum Verschwinden brachte. Weder er noch das Pferd hatten dann noch Beine. Von den Knien abwärts war nichts mehr zu sehen, so daß sie erschienen wie ein reitender Lichtstrahl, wie ein von stürmischem Wind getriebenes Licht, und schaumgeboren wurde er dahingetra g en von dem Pferd, das er ritt: dem geflügelten Pferd, dem Urpferd, dem Pferd, das den Sonnenwagen über den Himmel zog.
    Er dachte daran, dem Pferd von diesen Dingen zu erzählen, die er im Traum sah, aber er brachte es nicht fertig, weil ihn dann Schwäche und Liebeskummer überkamen. Jedesmal, wenn er es versuchte, war ihm, als

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