Der Glanzrappe
sie es merkte. Da sie sich selbst nicht wirklich heimisch zu fühlen schien, fragten die beiden sie, ob es ihr Haus war, konnten es aber nicht in Erfahrung bringen.
Was sie herausfanden, war, daß ihre Ohren nicht besonders gut funktionierten und sie nicht auf beiden Ohren gleichzeitig hören konnte. Sie erfuhren auch, daß sie monatelang keine Menschenseele mehr gesehen hatte, nicht mal einen streunenden Hund, und daß sie einen Sohn namens Horace hatte, einen wunderbaren jungen Mann, der im Krieg umgekommen war. Von welcher Seite er getötet wurde, wußte sie nicht, es war auch egal. Sie sagte, es habe ihr das Herz gebrochen. Das wisse sie genau, sagte sie, aber sie brauche nichts als Liebe und Gebete im Leben. Sie sei eine treue Jüngerin Gottes, ganz egal, was er ihr angetan habe. Als sie das sagte, war ein Glanz um sie, sie strahlte förmlich.
»Ich kann nicht schlafen, wenn ich nicht weiß, wo sie ist«, sagte Rachel. »Meinst du, sie geistert noch herum? Sie macht mir richtig angst.«
»Versuch zu zählen«, empfahl er ihr. Er rieb sich die Wangen, als wollte er seine Gesichtszüge neu gestalten. Er wollte sie beruhigen, aber sie hatte um sich eine Mauer aus Wachsamkeit und Mißtrauen errichtet, hinter der sie nicht hervorkam. Seit sie ihn getröstet hatte nach dem Tod seines Vaters, war sie nicht mehr nett zu ihm gewesen.
»Eins, zwei, drei«, sagte sie, »es funktioniert nicht.«
Da sagte er ihr, daß er sie liebte.
»Warum?« fragte sie.
»Einfach so.«
Sie hob die Arme unter der Decke und schaute ihn an. Die Spitze ihres Messers drückte gegen den Stoff.
»Sei nicht so ein Dummkopf«, schimpfte sie.
Sie legte sich wieder zurück auf die Liege in diesem seltsamen Raum und zog die Decke hoch ans Kinn. Sie drehte sich von ihm weg und tat, als wäre sie eingeschlafen. Sie war erschöpft von der Last, die sie stets mit sich schleppte, und verstand nicht, warum sie nicht schlafen konnte und warum er sagte, daß er sie liebte.
»Ich lieb dich – fast«, sagte sie sanft und wollte weitersprechen, war aber schockiert von den eigenen Worten und schüttelte heftig den Kopf – nein, das hatte sie nicht sagen wollen. Sie schien sich ihres Mißtrauens zu schämen, oder ihrer Unfähigkeit, er konnte es nicht einschätzen. Sie war ihm mit der Zeit immer rätselhafter geworden. Er fragte sich, ob die Schuld, die er bezahlte, jemals ganz beglichen werden konnte und ob sie es überhaupt so sah, ob sie wußte, wie er darüber dachte.
»Wie lange noch?« fragte sie.
»Noch ein paar Tage«, sagte er leise. »Ruh dich noch ein bißchen aus, und dann machen wir uns wieder auf den Weg.«
Sie hatten sich nicht lange bei den Soldaten am Ufer des Potomac aufgehalten. Er besorgte ihr eine braune Stute, hart im Maul, eines der wenigen Pferde, die der Glanzrappe neben sich duldete, und nahm Proviant, Munition und das Gewehr mit. Die Versorgungslage der Armee war noch immer prekär, als er die Männer aus der Batterie seines Vaters fragte, wie weit es nach Hause sei und wie lange er brauchen werde. Zwei Tage, sagten sie, wenn er die Pferde zuschanden ritte und nicht schliefe, sonst fünf Tage. Er sollte sich auf Meilen Luftlinie einstellen, nur in der Nacht reiten und die Pferde jeden Tag sorgfältig striegeln.
Verkriech dich am Tag, hatten sie ihm zugeredet, leg dich hin, wenn die Sonne aufgeht, und wenn du fast da bist und nur noch fünf Meilen fehlen, dann schlitz den Pferden die Schultern auf, richtig tief, und schütte Schwarzpulver in die offenen Wunden. Jawohl, sagten sie, genauso würden sie es machen, wenn sie es eilig hätten, nach Hause zu kommen. Aber andererseits, diesen Glanzrappen zu Tode zu schinden, nur um nach Hause zu kommen, das war es nicht wert, denn wer zum Teufel brauchte ein Zuhause, wenn er einen solchen Hengst hatte?
Sie waren pausenlos geritten in den letzten Nächten, und in ihrer Vorstellung schien es, als wäre die ganze Welt hinter ihnen her. Sie schliefen unter Felsvorsprüngen und in hohlen Baumstämmen, und wenn sein Instinkt es ihm sagte, suchten sie sich einen neuen Unterschlupf , und im Morgengrauen machten sie wieder halt. Auf den Landstraßen wimmelte es von regulären Truppen und von Partisanen und Banditen. Hier gab es Gewinne einzustreichen und alte Rechnungen zu begleichen. Er hatte aus erster Hand erfahren, daß auch das Krieg war, eine Art von Krieg im Krieg. Das hier war genauso ein Teil des Krieges wie der Krieg selbst, und im Krieg wird man umgebracht, allein deshalb,
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