Der Glanzrappe
weil man noch am Leben ist.
Der kürzeste Weg war in Richtung Westsüdwest, aber die Route verlief entgegen der natürlichen Richtung der Flüsse und Gebirgszüge. Sie überquerten Bäche und Flüsse, wateten durch tiefen Morast, bis er schließlich die grüne Anhöhe der Alleghenies erkannte, auf die sie hinaufsteigen mußten. Mit ihren sanften Ausläufern und den Felsklüften, durch die der Wind pfiff, wirkten sie wie ein riesiges, schlafendes Ungeheuer, das die Beine unter den Rumpf gezogen und die Vorderpfoten nach vorn gestreckt hat.
»Noch zwei, drei Tage«, sagte er.
»Nächte, meinst du wohl.«
»Ja, Nächte«, stimmte er zu.
Er war besorgt, ob sie durchhalten würde. Sie war so bitter geworden, war ihrer Bruchstelle so nahe gekommen. Es schien, als hätte sie überhaupt nicht mehr geschlafen, seit er mit ihr zusammen war. Sie klammerte sich an ihre Furcht, kam nicht von ihr los, sosehr sie sich auch bemühte, ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken.
Sie fing an zu zittern, setzte sich auf und ließ zuerst die Decke und dann ihr schmutziges Nachthemd von den Schultern gleiten.
»Leg dich auf mich«, sagte sie und ließ das Messer zu Boden fallen. Dann legte sie sich auf den Rücken und öffnete die Arme, zeigte ihm ihren nackten Körper. Doch er rührte sich nicht vom Fleck.
Sie wiederholte, daß er kommen solle, sagte ihm, was er tun sollte, und als er sich immer noch nicht rührte, sagte sie, wenn er sie heiraten wollte, müßte er schon ein hißchen netter zu ihr sein.
Mit ungeschickten Bewegungen setzte er sich neben sie auf die Liege und beugte sich vor, ließ sich zu ihr hinabsinken, bis sie ihn mit den Armen umfing und ihn in einem Durcheinander von Armen und Decke und Nachthemd fest an sich zog.
»Beweg dich nicht«, sagte sie und preßte ihn an ihren bebenden Körper.
Er drückte das Gesicht an sie und sog den Geruch von Leder und Schweiß und Pferd und Holzfeuer ein, den sie teilten. Er wollte sein Gesicht an ihrer Haut ruhen lassen, es nie mehr wegnehmen. Er spürte, wie etwas aus seinem Innern gezogen wurde und sich ihr entgegenstreckte. Er wollte Worte finden, um ihr das zu sagen, aber er war sich seiner Gefühle nicht klar, und das würde noch lange so bleiben.
»Du bist nicht der Schlechteste«, sagte sie mit zärtlicher Resignation und zog ihn noch fester an sich. Sie strich ihm über den Rücken und küßte ihn auf die Wange und den Hals.
Als sie aufwachten, war von der alten Frau immer noch nichts zu sehen. Sie sprachen zunächst gar nicht von ihr, und je länger sie darauf warteten, daß der andere etwas dazu sagte, desto unwahrscheinlicher erschien e s ihnen, daß sie überhaupt existierte. Er trat hinaus auf den Hof, das Gewehr in der Armbeuge, und ließ den Blick über den Horizont gleiten. Bald würde es dunkel werden. Im Westen, wo die sinkende Sonne die Erde in Brand setzte, wurde der Horizont von Sonnenfeuern erleuchtet.
Er lief im Hof umher, und noch immer kein Zeichen von der alten Frau. Dann fiel sein Blick durch das Verandageländer auf einen struppigen tiefhängenden Ast, der sich nach oben bog. Zuerst dachte er, es wäre das winzige Gesicht eines Kindes, das ihn aus den Büschen anstarrte, oder das Gesicht eines Waldkobolds, den er auf frischer Tat ertappt hatte.
Er ging auf die Veranda, legte den Kopf schräg und dann erkannte er, was es war: ein Büschel vertrockneter Nadeln, ohne jede Ähnlichkeit mit dem Gesicht eines Kindes oder eines Waldkobolds. Er bewegte den Kopf und versuchte erneut, mit den Augen einzufangen, was er gesehen hatte, und dann war es wieder da.
»Ich seh dich«, sagte er.
Er spielte dieses Spiel so lange, bis er das Gesicht wiederfand, und dann ging er zu den Pferden, um sie zu zäumen und zu satteln. Als er ins Haus zurückkam, stand Rachel am Vorratsschrank. Sie leckte an ihrem Zeigefinger, tauchte ihn in den Zucker und lutschte die süßen Kristalle ab. Er sah ihr zu, und als sie ihn bemerkte, bedeutete er ihr weiterzumachen, bis sie genug hatte.
»Das Essen ist fertig«, sagte sie dann und zeigte auf den Herd, wo Kartoffeln und Speck warteten. Er war hungrig, und da er kein Besteck sah, nahm er den Teller in die Hand und aß die heiße Mahlzeit mit den Fingern.
Als es dunkel geworden war, stiegen sie wieder auf die Pferde und ritten in die tintenschwarze Nacht, und als sie anhielten, um den Pferden eine Pause zu gönnen, sagte sie, jetzt fühle sie sich schon etwas besser, aber noch lange nicht so gut, wie sie es gern
Weitere Kostenlose Bücher