Der Glanzrappe
hätte.
»Ich hatte gehofft, daß es schneller geht«, sagte sie, »aber nein.«
Er wollte antworten, fand aber keine Worte. Er wollte ihr sagen, es sei nur eine Frage der Zeit, aber wußte er denn, ob das stimmte? Er trug an seinem eigenen Kummer und Haß, hielt sich daran fest und bezog daraus Kraft. Er wollte nicht vergessen, niemals. Wie konnte er ihr dann raten, ihre eigene Bürde abzuwerfen? Er begann zu gestikulieren, als ließen sich die Worte so leichter finden, doch schließlich gab er auf und seine Hände sanken in den Schoß.
Sie wartete ab, ob das alles war, und dann lachte sie ihn aus.
Er kramte eine Dose Kondensmilch hervor und öffnete sie mit der Spitze ihres Messers. Sie hockten sich in eine kleine Felsnische, in der sich eine Quelle befand, und teilten sich die Ration, während sich die Pferde unter einer Baumgruppe ausruhten. Er ließ den Blick über das Schattenmuster gleiten, das vom Licht der Sterne herrührte, und überlegte, wie weit sie heute nacht noch kommen würden, wägte die Vorteile einer weiteren Meile gegenüber der Anstrengung ab, die es für sie und für die Pferde bedeuten würde. Die Stute würde nicht mehr lange durchhalten, andererseits war es nicht mehr weit. Er kannte zwar diese Stelle nicht, wohl aber die Gegend, und er wußte, welchen Weg sie einschlagen mußten.
»Die Sterne sind näher gekommen«, sagte er und kauerte sich neben sie. Er harte seinen Entschluß gefaßt. Sie würden den Großteil der Nacht hier verbringen und vor Tagesanbruch ein Stück weiterreiten.
»Meinst du, sie war überhaupt da? «
S ie schien an die alte Frau zu denken, bei der sie den Tag verbracht hatten.
»Ich weiß nicht«, sagte er, »ich denke schon.« »Ist wohl auch egal«, meinte sie.
Plötzlich änderte er seinen Entschluß, und sie stiegen noch einmal in den Sattel. Er mußte nach Hause. Er mußte zurück zu seiner Mutter, mußte wissen, wie es ihr ging.
AM FRÜHEN MORGEN sahen sie, wie Truthahngeier im Aufwind segelten, majestätisch in der Luft schwebten, wie sie sich langsam in die Höhe schraubten und dann wieder fallen ließen. In den Kiefern hing noch der kalte Rauch von verbranntem Holz, einem langsam dahinsterbenden Herdfeuer. Er entdeckte eine alte Frau mit Schal und einem Regenschirm. Neben ihr stützte sich ein alter Mann auf seinen Gehstock. Die beiden standen auf einem Hügel und betrachteten den Sonnenaufgang, dann gingen sie weiter und verschwanden hinter der Kuppe. Ihm erschienen sie als zwei brave, freundliche Menschen, die ins Taumeln geraten waren, gebeutelt von der Spirale der Geschehnisse, die, einmal in Bewegung gesetzt, ihre ganz eigene schreckliche Kraft entwickelte.
Als sie an dem Ort ankamen, wirkte er, als hätte man ihn nun endgültig verlassen. Unwillkürlich fiel ihm die Geschichte ein, die ihm der Vater einmal erzählt hatte, von einem Athleten aus der Antike, der mit einem Bullenkalb auf den Schultern einen Berg hinauflief. Jeden Morgen F t at er das, in dem Glauben, wenn das Kalb wuchs, würde auch er mehr Kraft aufbauen und noch stärker werden.
Der Vater hatte gesagt, das sei ein Ding der Unmöglichkeit, aber der Gedanke gehe ihm nicht aus dem Kopf. Vielleicht seien Bullenkälber früher auch nicht so schnell gewachsen wie heute. Egal. Der Vater sagte, er habe den Gedanken an diesen Mann nicht mehr loswerden können, und trotz allem, was er über die Aufzucht von Kälbern wisse, frage er sich gelegentlich immer noch, warum es einfach nicht funktionieren konnte.
Mal abgesehen von den offensichtlichen Gründen, hatte sein Vater gesagt, warum eigentlich nicht? Ein Gedanke, um den das ganze Denken kreisen konnte. Vielleicht waren alle Menschen so. Vielleicht kämpften sie guten Willens für eine schlechte Idee, kämpften und kämpften, bis sie die Unmöglichkeit ihres Vorgehens einsehen mußten.
An der Tür der Hütte hing ein riesiges Vorhängeschloß, wie für ein Waffenlager, aber dieses hier schien nicht aus Gründen der Sicherheit angebracht worden zu sein, sondern eher als Bestrafung für ein schweres Vergehen. Auch die Fensterläden waren fest vernagelt, aber der kleine Küchengarten schien erst vor kurzem gejätet worden zu sein, und dort, wo einst jemand breite Beete angelegt hatte, wiegten sich noch immer bunte Blumen über dem nachwachsenden Unkraut. Wildrosen rankten an den Holzwänden empor. In ein Regenfaß flöß über eine Holzrinne bernsteinfarbenes Wasser. Alles wirkte so ordentlich, als würden die beiden Alten in ein, zwei
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