Der Glasmaler und die Hure
einem Sterbenden.
Es war kühl geworden. Thea preßte sich an Martin und bemerkte, daß er die Augen geöffnet hatte. Auf seinem Gesicht glänzte Schweiß. Als sie eine Hand auf seine Stirn legte, fühlte sie, daß er fieberte.
»Sophia«, phantasierte er. »Fort … fort … der Tod greift nach uns …«
Thea küßte sanft seine fiebrige Wange. »Ich bin bei dir. Hab keine Angst.«
Sie entdeckte den Anflug eines Lächelns in seinen Zügen, bevor er wieder einschlief. Anscheinend glaubte er wirklich, seine Frau säße neben ihm.
Auch Thea versuchte, zur Ruhe zu kommen. Die Strapazen des vergangenen Tages hatten ihre Glieder schwer wie Blei werden lassen, doch sobald sie die Augen schloß, tauchten in ihrem Kopf erneut die schrecklichen Bilder auf. Sie sah die Menschen, die unter den Schwertern ihr Leben ließen oder im Feuer starben; Mütter, die mit ihren Kindern vom Wall in den Tod sprangen.
Irgendwann glitt sie trotzdem in einen unruhigen Schlaf, fuhr aber bei jedem Geräusch erschrocken hoch.
Als sie schließlich aufwachte, erkannte sie am Stand der Sonne, daß es bereits später Vormittag sein mußte. Martins Zustand hatte sich nicht verändert. Sie selbst fühlte sich durch den Schlaf erfrischt, wenngleich ihr Magen sich vor Hunger schmerzhaft zusammenzog.
Die Elbe trug nun kaum noch Leichen mit sich. Von der Anhöhe aus sah Thea, daß Magdeburg noch immer brannte. Die Flammen schlugen allerdings nicht mehr so hoch wie am Tag zuvor.
Es war für sie und vor allem für Martin wichtig, um zu überleben, daß sie etwas zu essen auftrieb. Barfuß streifteThea durch den Wald und humpelte bereits nach kurzer Zeit, da sich immer wieder spitze Steine in ihre Fußsohlen bohrten. Sie fand viele Pilze, aber sammelte nur einige Mairitterlinge und Schirmlinge, von denen sie wußte, daß man sie essen konnte.
Die Pilze schmeckten mehlig und bitter. Thea würgte sie dennoch hinunter, um den ärgsten Hunger zu stillen. Auch für Martin suchte sie eine Handvoll zusammen.
Auf dem Weg zurück zu ihm stieß sie auf einer Lichtung auf eine halbverfallene Bauernkate. Die aus grobem Bruchstein gebaute Hütte war verlassen. Sie mußte bereits seit Jahren leer stehen. Am rechten Giebel war der Dachstuhl eingebrochen, und in dem noch überdachten, schmutzigen Innenraum fand sie nichts außer zahlreichen Vogelnestern und Spinnennetzen.
Thea schaute sich noch eine Weile um, dann kehrte sie zu Martin zurück.
Er sträubte sich in seinem fiebrigen Halbschlaf beharrlich dagegen, die Pilze hinunterzuschlucken, und so gab sie es nach einer Weile enttäuscht auf, ihn zum Essen zu zwingen.
Sie löste seinen Verband und betrachtete besorgt die in den vergangenen Stunden stark angeschwollene Wunde. Als sie vorsichtig an der Blutkruste kratzte, zuckte er zusammen und stöhnte laut. Die Schmerzen mußten furchtbar sein.
Lange hockte sie einfach bei ihm und lauschte dem Knarren der Bäume, das wie das Heulen von Gespenstern klang. Thea versuchte, die traurige Welt um sie herum zu vergessen, und stellte sich erneut die Fragen, die sie quälten, seit sie Martin Fellinger aus Magdeburg fortgeschafft hatte.
Durfte ich ihn von seiner Frau trennen? Hätte ich ihn in seinem Haus an ihrer Seite sterben lassen sollen? Wird er überhaupt jemals ein Leben ohne sie führen wollen?
Wird er mich verdammen für das, was ich ihm angetan habe?
Thea wußte, was es bedeutete, die Menschen zu verlieren, die einem am Herzen lagen. Das Leben erschien sinnlos, aber die Erfahrung hatte sie gelehrt, daß ein solcher Verlust nicht das Ende bedeutete. Sie selbst hatte einst innerhalb weniger Jahre ihre gesamte Familie zu Grabe tragen müssen.
Das Leben war ein Geschenk, das ihr Gott, die Natur oder wer auch immer bereitet hatte, und sie hatte sich stets mit aller Kraft dagegen gewehrt, dieses Geschenk zu verdammen. Ihr starker, unerschütterlicher Wille zu überleben war seit jeher die Kraft, die sie vorantrieb.
Aber besaß auch Martin Fellinger diese Kraft?
Während sie ihren Gedanken nachhing, setzte ein leichter Nieselregen ein. Thea fluchte leise. Noch eine Nacht in nassen Kleidern würde für Martin den sicheren Tod bedeuten. Sie mußte ihn zu der verlassenen Kate schaffen. Dort war es zwar dreckig, aber zumindest würde die Hütte ihnen Schutz vor dem Regen bieten.
Es war nicht einfach, Martin zur Kate zu schleppen. Thea legte seinen Arm um ihre Schulter, und es bereitete ihr Mühe, ihn auf den Beinen zu halten. Nach der Hälfte des Weges stürzte
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