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Der Glaspavillon

Titel: Der Glaspavillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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Artikel mit der Überschrift »DAS KURZE
    LEBEN VON NATALIE UND IHR GRAUSAMER
    TOD«. Unter einer etwas unscharfen Aufnahme, auf der alle sieben Martellos zu sehen waren, wie sie in die Kamera lächelten, stand eine kurze Erläuterung. Der erste Satz lautete: »Sie schienen eine so glückliche Familie zu sein.« Außerdem gab es noch einen Bericht über die polizeilichen Nachforschungen; mein Name fiel mir gleich im ersten Absatz ins Auge, aber ich las die Geschichte nicht; ich konnte einfach nicht.
    Das Telefon läutete. Ich erstarrte und umklammerte die Tasse mit dem inzwischen kalt gewordenen Tee.
    »Jane, hier ist Kim. Bitte nimm den Hörer ab.«
    »Kim.« Ich glaube, ich war noch nie so froh gewesen, eine vertraute Stimme zu hören. »Kim, Gott sei Dank, du bist es.«
    »Hör mal, wir können später reden. Ich habe uns ein Zimmer in einem kleinen Hotel in Bishop’s Castle an der Grenze zu Wales gebucht. Ich will mit dir übers Wochenende wegfahren. Kannst du bis halb sechs fertig sein? Ich hol dich ab.«
    Ich hatte keine Einwände.
    »Was würde ich nur ohne dich anfangen, Kim? Ja, das geht.«
    »Gut. Vergiß nicht, deine Wanderschuhe und jede Menge warme Sachen einzupacken. Bis dann.«
    Ich lief nach oben und stopfte ein paar langärmelige TShirts, dicke Pullover und warme Socken in eine große Reisetasche, kramte meine Wanderschuhe hervor, an denen noch der Dreck vom letzten Jahr klebte, und fand schließlich meine Regenjacke zusammengeknüllt ganz hinten im Schrank. Viertel vor fünf. Ich zündete mir eine Zigarette an und schaltete den kleinen Fernseher am Bettende an. Alans Gesicht, das nur aus Bart und bedrohlich blickenden Augen zu bestehen schien, starrte mich an, dann schwenkte die Kamera auf das ernste Gesicht eines noch sehr jungen Reporters: »Bei der Urteilsverkündung beschrieb der Richter den Mord eines Vaters an seiner Tochter als eines der schlimmsten und widernatürlichsten Verbrechen, das man sich vorstellen könne …« Ich beugte mich entsetzt vor und schob Pauls Video in den Recorder. Der junge Reporter verschwand jäh von der Bildfläche. Während der Vorspann lief, tauchte hinter aufsteigendem Zigarettendunst Stead auf dem Bildschirm auf.
    Obwohl ich die letzte Sequenz bereits vorab gesehen hatte, war ich nie den Eindruck losgeworden, daß Paul bei seinem Film nicht sonderlich systematisch vorgegangen war. Also erwartete ich wohl einen Urlaubsfilm, wie man ihn mit der Videokamera dreht. Doch ich sollte eine Überraschung erleben. Der Film begann damit, daß Paul einige Verse aus A Shropshire Lad rezitierte: Dringt in mein Herz ein tödlicher Wind Aus jenem fernen Land,
    Sag mir, was das für blaue Hügel sind Und Dörfer, unbekannt?

    Die Kamera zeigte in ruhigen Einstellungen die Landschaft von Shropshire, die nun im Winter zwar kahl, aber noch immer sehr imposant wirkte. Die Sonne schimmerte durch die blattlosen Äste rund um Stead, und das alte Haus mit seinen rosa schimmernden Mauern sah einladend aus. Es war das Haus meiner Kindheit und das Land meiner verlorenen Unschuld.
    Ich saß gebannt vor dem Fernseher, während die Zigarette bis zu meinen Fingerspitzen niederbrannte, und betrachtete Paul, wie er direkt in die Kamera sprach.
    Erinnerung, sagte er, ist etwas nicht Greifbares, und die Erinnerungen, die man an seine Kindheit hat, sind verführerisch und voller Sehnsucht. Wenn man eine glückliche Kindheit verleben durfte, dann fühlt man sich als Erwachsener wie ein Verbannter, dem diese Freuden nun für immer versagt sind. Wir können niemals dorthin zurückkehren. Die Musik schwoll an, und die Kamera zoomte zur Eingangstür von Stead. Alan trat heraus. Die Zigarettenasche fiel auf die Bettdecke, und ich fegte sie achtlos beiseite. Er zitierte etwas von Wordsworth und sprach über die Liebe. Er erklärte in seiner großspurigen Art, daß er ein zorniger, junger Mann gewesen sei, der die Familie und die damit verbundenen Werte verachtet habe.
    Aber er habe gelernt, daß dies – wobei er auf Stead deutete
    – der Ort sei, an dem er wirklich er selbst sein könne. »Ich habe für mich so etwas wie Frieden gefunden«, erklärte er.
    Als er da auf der Türschwelle stand, wirkte er wie der Prototyp des weisen Patriarchen. Ich betrachtete seine breiten Hände, mit denen er seinen Worten Gewicht verlieh, und erschauderte. Martha, so zart und zerbrechlich wie eine Blütenranke, kam den Flur entlang. Sie hatte einen flachen, breiten Korb und eine Gartenschere bei sich, lächelte

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