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Der gleiche Weg an jedem Tag

Der gleiche Weg an jedem Tag

Titel: Der gleiche Weg an jedem Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Adamesteanu
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Tags zuvor, sie kamen und gingen, einige standen im Hof unter dem Birnbaum herum. Sie unterhielten sich im Flüsterton, und ich wusste nicht, wieso sie alle schwiegen, als ich ins Vorzimmer kam, und mir nachsahen, als ich mit Mutter ins Schlafzimmer ging. Ich spürte, wie sie sich drängelten und die Köpfe über die Schultern der anderen reckten, um mich besser zu sehen.
    Â»Schauen wir mal, was das Kind jetzt macht«, vernahm ich die Stimme einer Frau.
    Ich wusste nicht, was ich tun sollte, und wagte es nicht, Mutter zu fragen. Ich blieb auf der Schwelle stehen und wackelte mit dem Fuß in der Sandale hin und her. In dem weiß drapierten Sarg lag Tante Ştefi. Aus ihren gelben Nasenlöchern ragten Wattebäusche, auf ihrem plötzlich geschwollenen Bauch lagen die knochigen gelben Hände, und an ihrem kleinen Finger hing an einem roten Faden eine Münze. Ich fragte mich, ob sie aus der Sammlung des Onkels stammte und weshalb man sie wohl hingehängt hatte. Die Luft war ätzend, ich begann mir die Augen zu reiben und dachte, es sei wohl wegen der Blumen, die gehäuft über ihren steifen dünnen Beinen lagen. Die Strümpfe, die man ihr angezogen hatte, warfen Falten und blähten sich. Am Bücherregal des Onkels lehnte ein hölzernes Kreuz, darauf stand in schwarzen Buchstaben INRI ŞTEFANIA SILIŞTEANU .
    Â»Es reicht«, sagte Onkel Ion und kam auf mich zu. »Geh schon, LetiÅ£ia …« Und er legte seine Hand auf meinen Scheitel. Ich spürte seine Finger in meinem Haar, wie sie sich bewegten und wieder unschlüssig innehielten. Er trug den guten Anzug und am Ärmel ein breites schwarzes Band. Die Ringe unter den rot geäderten Augen waren tiefbraun, und in seinem zum Zeichen der Trauer sprießenden Bart sah ich jede Menge weißer Stoppeln. »Geh schon, Liebes, geh zur Cornelia spielen …«
    Ich spürte seine Lippen auf meiner Stirn und erschrak im Nachhinein, weil er mich Liebes genannt und sich zu mir herabgebeugt hatte, um mich zu küssen. Einmal hat er mich noch geküsst, viel später, als ich nach Bukarest zur Aufnahmeprüfung fuhr, damals erschrak ich nicht mehr, aber ich schämte mich sehr. Die Haut zuckte vor Anspannung über seinen Wangenknochen. Und weil ich mich nicht rührte, schob er mich sanft an den Schultern bis zur Tür. Ich ging durch das überfüllte Vorzimmer, wo alle wieder miteinander redeten und mich gar nicht mehr beachteten. An unserem Hoftor hingen Trauerfahnen, lange schwarze Vorhänge mit Troddeln, bestickt wie Messgewänder. Ich setzte mich mit dem Rücken zu ihnen, um sie nicht sehen zu müssen. Auf den Blättern des Flieders lag Staub, den die auf der Straße vorbeifahrenden LKW s aufwirbelten, und ich begann mit Steinchen zu spielen, die für mich Menschen waren.
    Später sagte Onkel Ion, wenn er etwas erzählte, immer wieder: »Dort war ich mit der armen Ştefania«, »Ştefania mochte das nicht«, »Das ging wegen Ştefania nicht« – als wäre es seine Pflicht, uns allen zu zeigen, dass er sie nicht vergessen hatte. Oder um uns zu zwingen, sie nicht zu vergessen. Mit der Zeit legte sich das Zucken seiner Wangen, wenn er von ihr sprach. Dann begann er auch über kuriose Dinge zu reden, die ihnen passiert waren, als sie zusammen waren, und wir lachten gemeinsam. Noch besser erinnerte sich Fräulein Mira an das eine oder andere, sie kam immer öfter zu uns und brachte mir stets eine Schachtel Kirschpralinen mit. Tante Mira war mit Onkel Ion in einem Lehrerkollegium und eine Freundin von Mutter. Das alles aber geschah natürlich viel später, als ich mich kaum noch an Tante Ştefi erinnerte.
    *
    Etwas Unangenehmes und Peinliches geschah mit meinem Körper. Zuerst dachte ich, ich wäre krank und würde sterben. Ich traute mich nicht, Mutter etwas zu sagen, doch abends im Bett betastete ich meine schmale Brust, die wehtat. Unter der Haut spürte ich seltsame Gewebeplättchen, die mir unter den Fingern wegrutschten, wenn ich drückte. Krumm vor Sorge tastete ich mich überall ab, bis meine Finger unter den mit Kratzern übersäten Armen anlangten. Dort waren ein paar seidige Härchen zu spüren, von denen ich noch nichts gewusst hatte. Jetzt konnte ich einmal im Monat auch mein Blut sehen, ich wusch heimlich mein beflecktes Höschen, ein bisschen tropfte auch noch am zweiten Tag, dann hörte es auf und

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