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Der gleiche Weg an jedem Tag

Der gleiche Weg an jedem Tag

Titel: Der gleiche Weg an jedem Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Adamesteanu
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Etikett der Weingenossenschaft Vinalcool.
    Â»Nein, das reicht!«, sagte der Herr Emil hastig und hielt seine langen knochigen Finger über das Glas. Und um seine Abwehr zu unterstreichen, neigte er seinen stets von allzu langen Haaren überwucherten Kopf nach rechts.
    Â»Meinst du denn«, gab der Herr Emil nach einer Weile zu bedenken, »meinst du denn, wir wären froh, wenn wir immer nach unserem wahren Wert beurteilt würden? Schließlich ist er wirklich nicht leicht zu fassen. Wir selbst überschätzen uns ja gern und schieben es auf Zufälle und die anderen Menschen, wenn uns unsere Stellung im Leben nicht angemessen erscheint … Meinst du nicht, dass es eher unser Selbstvertrauen stärkt, nicht allzuviel über unsere Bestimmung zu wissen?«
    Ich hatte geahnt, dass er damit kommen würde, nur das Lächeln, das er über seinen Redeschwall breitete, milderte sein Pathos. Mit letztem Mut zum Risiko gab er blindlings seine verschämte Zurückhaltung auf. Aber Onkel Ion schien nichts zu bemerken, oder es war ihm egal.
    Â»Lass das, Emil«, lachte er und streckte das kranke Bein auf einem Stuhl aus. »Lass das, trink doch ein Glas, wenigstens einmal möchte ich auch dich trinken sehen …«
    Der andere verharrte mit vorgebeugtem Oberkörper, hängenden Schultern und schlaffen Knien. Nur in den Mundwinkeln ging das demütige Lächeln (oder schien es nur mir so?) in eine leicht spöttische Gleichgültigkeit über.
    Â»Als wäre es für dich das Richtige, wo du doch weißt, dass dir danach schlecht wird …«
    Mutter hatte mich vom Herd weggeschubst und kam jetzt mit der vollen Kohleschaufel in der Hand zurück, um den Herrn Emil zu verteidigen. Sie schämte sich der Grobheit des Onkels und hegte eine mütterliche Zärtlichkeit für den unbeholfenen Herrn Emil, in die sich wohl noch vage etwas anderes mischte, das sie für ihn empfand und das mich auf die Palme brachte, sooft ich es spürte.
    Â»Vielleicht noch ein Sorbet?«, fragte sie ihn.
    Â»Ja, schon, aber wenig, wirklich nur ein bisschen«, beteuerte der Herr Emil eilig und setzte sich so vorsichtig auf den Stuhl, dass die Bewegung kein Ende zu nehmen schien.
    Â»Gestern war schönes Wetter, nicht wahr? Ich glaube, von jetzt an …«, sagte er, unschlüssig, ob er einen fragenden Tonfall anschlagen sollte.
    Seine Maske aus Diskretion behinderte ihn beim Reden, oder war das schon immer so gewesen? Alle lachten wir, sogar Mutter, die mit einem silbernen Löffelchen unter der zuckrigen Kruste im Glas nach dem Sorbet bohrte.
    Â»Lass mal, Onkel«, warf ich großmütig ein, »ich trinke mit dir …«
    Mutter sah mich strafend an.
    Â»Es wird ihm ja nicht immer schlecht, wenn er trinkt«, sagte ich zu meiner Entlastung. Aber Onkel Ion wurde böse.
    Â»Um mich geht es gar nicht, sondern um dich«, sagte er. »Du bist ein Mädchen, und mit deiner Erbanlage bist du anfällig für Exzesse …«
    Â»Gott bewahre …«
    Mutter goss sich ebenfalls Wein ins Glas, während ich mich gekränkt abwandte. Wenn sie trank, traten rote Flecken auf ihre Wangen und auf ihre Brust, sie war überdreht und lachte ohne Grund, und ich spürte, dass der Onkel sie in ihrer Fröhlichkeit ängstlich beobachtete und so tat, als merkte er nichts.
    Â»Ich bin gar nicht so, wie ihr glaubt«, gab ich ihnen zurück.
    Â»Umso besser wissen wir, wie wir sein möchten«, warf der Herr Emil begütigend ein.
    Nach dem jahrelangen Schweigen überschlugen sich die Wörter, sobald er zu reden begann. Dann stieg eine späte Röte in seine hageren Wangen, er fuhr sich mit hastiger Hand durchs Haar, und plötzlich stockte er und ließ das, was er hatte sagen wollen, nachhallend in der Schwebe. Als hätte er sich plötzlich an etwas erinnert, grinste er hämisch, schwieg und nahm wieder den gewohnten Gesichtsausdruck an, der ihm für einen Moment entglitten war.
    Â»Habt ihr Neuigkeiten von Herrn Branea?« Er sah über die Schulter hinüber zu Mutter und verfiel in einen Flüsterton. Gereizt ließ Onkel Ion die Füße unter dem Tisch baumeln, und eine Weile war nur das Scharren seiner Pantoffeln auf dem abgewetzten Teppich zu hören.
    Â»Vor zwei Monaten war ich mit dem letzten Päckchen dort und habe einen ganzen Tag am Tor gestanden … Meins haben sie nicht angenommen,

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