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Der gleiche Weg an jedem Tag

Der gleiche Weg an jedem Tag

Titel: Der gleiche Weg an jedem Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Adamesteanu
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sah, aus dem heraus er mit meinen Augen – sie glaubten noch nicht an seinen Tod – jenseits seiner seidig braunen geschlossenen Lider alles wahrnahm, was mit ihm geschah, ein letztes Mal. Wie sie ihn, der so schwer herabhing, anhoben und zwischen den senkrechten, mit billiger Leinwand ausgeschlagenen Bretterwänden betteten, ein kleines Kissen unter dem Kopf, wie sie die Blumen zur Seite schafften, damit sie nicht Schaden nahmen, und wie sie ihn langsam und vorsichtig hinuntertrugen, wobei sie sich unsicheren Fußes Stufe um Stufe hinabtasteten. Wie im Treppenhaus, Etage für Etage, die Türen aufgingen und hinter uns wieder ins Schloss fielen, wie der Motor des LKW s brummte, den die Schule gestellt hatte und der mit heruntergelassenen, feierlich drapierten Seitenwänden neben der Kinderrutsche hielt. Wie sie ihn unter Ächzen und Stöhnen hinaufhievten und das Kreuz an die Rückseite der Fahrerkabine lehnten.
    Â»Wie ist das alles nur so schnell vergangen?«, raunte Mutter und wandte mir ihr vom Weinen verwüstetes Gesicht zu.
    Der Morast war noch klebriger geworden und reichte jetzt bis zur halben Höhe unserer Schuhe.
    Â»Die Zeit … ich weiß nicht … so schnell ist sie vergangen … das Leben«, murmelte sie, als wollte sie mich fragen.
    Plötzlich waren ihre Augen wach. Jetzt erst, in der vorderen Reihe des Trauerzugs, begriff sie endgültig, wenn auch nur für kurze Zeit, jetzt erst hatte sie ihr Leben und all unsere gemeinsam verbrachten Jahre im Blick. Das Licht der Erkenntnis erlosch genau so schnell unter ihren Tränen, die von neuem zu fließen begannen. So schnell, wie konnte sie nur, fragte ich mich und nahm hilflos ihren Arm.
    Von einem Erdhügel redete der Direktor, den kahlen Schädel dem Nieselregen ausgesetzt. Kleine Tropfen rannen über seine Wangen, vielleicht waren es auch Tränen, ich wusste es nicht. Die stockende Rede würde der Onkel nur noch durch mich hören und dabei versuchen, sich in den feierlichen Worten wiederzuerkennen, in der lehmigen Grube wimmelten die Würmer mit zuckenden bläulichen Schwänzen. Er würde wissen, wie sie die Kränze mit wehenden regengetränkten Trauerbändern in die armselige Weide neben dem Kreuz hängten, und würde noch hören, wie die Erde weich auf den hölzernen Sargdeckel klatschte. Von hier oben würde er auch die Stadt sehen, die zwischen den Hügeln lag, wie er sie immer gesehen hatte, den schwarzen Fleck des kahlen Crâng und den grell gestrichenen Glockenturm unserer Kirche und in dem Neubauviertel die Fenster der Wohnung im dritten Stock, wo er gerade mal einen Monat gelebt hatte.
    *
    Eine Zeitlang roch die Wohnung immer noch nach Tod. Er war durch sie hindurchgegangen und hatte Stille hinterlassen – und sein leeres Schlafsofa und das Öllämpchen, das Nacht für Nacht brannte. Der Geruch von vielen Blumen, Kerzen und Weihrauch und die Spuren süßlichen Parfüms waberten in den Zimmern, in denen unsere Schritte fremdartig hallten. Darum nahmen wir uns in Acht vor unseren Stimmen, redeten im Flüsterton und aßen verschämt und hastig an einer Ecke des Tisches. Nach den Tagen mit viel Gerenne und vielen Leuten wuchs eine stumpfe Stille, nur wir beide waren hier geblieben, der Tod war unser. Es regnete jeden Tag, die an den Fenstern herunterrinnenden Tropfen waren uns verhasst, jenseits davon begann ein anderer Frühling, den er nicht mehr sehen würde. Nichts von dem, was von nun an mit mir geschah, würde er wissen, mein Leben blieb wie das seine im Tod stecken. Jetzt erst begriff ich, wie sehr ich, wenn ich mich durchs Leben bewegte, auf seine Beachtung angewiesen war. Und mir fiel all das ein, was zu fragen ich immer aufgeschoben oder nicht einmal überlegt hatte. Das Wasser rann immer weiter, schlug mit kalten Tropfen gegen die Scheiben, und im Innenhof hörte man die Regenrohre gluckern. Wenn wir wüssten, dass er irgendwo in der Stadt ist, würden wir ihm eilends den alten schwarzen Regenschirm mit den verbogenen Stäben bringen. Oh, wie hatten wir ihn nur so aufgeben können, seinen vertrauten Körper, der plötzlich keinen Wert mehr hatte?
    *
    Ich hätte zurückfahren müssen, schob es aber jeden Abend weiter hinaus, ging mit Mutter zum Friedhof und mied den Korso auf dem Rückweg, zog ihn in die Länge, als erwartete ich, ihm zufällig zu begegnen. In einer Staubwolke

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