Der gleiche Weg an jedem Tag
räumte die Planierraupe, jedes Mal an einer anderen Stelle, noch vorhandene Mauerreste ab, Leute in Arbeitskluft standen dabei und brüllten herum. Auch ich blieb in der Menge stehen, ich war ihm nicht begegnet und konnte mir nicht erklären, wo er jetzt sein mochte. Dann hasste ich die StraÃen und die Häuser, die übrig geblieben waren, und die Gerüste, die immer höher gezogen wurden. Ich hasste sie so, wie Mutter die Dinge hasste, die sie so viele Jahre verwahrt und abgewischt hatte und die sie jetzt verbittert weggab, weil sie es nicht verwinden konnte, dass diese ein längeres Leben hatten als der Onkel. Und wieder irrte ich durch bevölkerte und menschenleere StraÃen, nein, ich hatte nicht gewusst, dass eine ganze Stadt nur von zwei oder drei Menschen bewohnt ist.
Nachts sah ich in dem ungewissen Dunkel seine in der Bibliothek aufgereihten Ordner. Mir wurde bewusst, dass ihm nichts gelungen war, und ich erstickte den Schrei im Kissen, wenn das Mitgefühl mich überkam. Ich hatte ihn noch so gut vor Augen, wie er bedächtig Stufe um Stufe in den Hof hinunterging, die Umschläge mit den Exzerpten in der einen und den dampfenden Kaffeetopf in der anderen Hand, ich wusste noch genau, wie er sich schwerfällig bückte, um die Schnürsenkel zu binden, und wie er seinen guten Anzug bürstete, bevor er in die Schule ging, ich wusste, wie er mir über die Schulter sah, wenn ich las, und wie er die Weinflasche zwischen den Knien hielt, wenn er sie entkorkte, und mich fragte:
»Was gibtâs noch auf der Fakultät?«
Sein Leid aber, das ich jetzt erst ahnte, wo war das gewesen?
*
Ich war zurück in Bukarest, morgens ging ich zu den Vorlesungen oder in die Bibliothek, und mittags kam ich aus der Kantine.
»Mein Onkel«, antwortete ich frostig, wenn sie mich fragten, sobald sie das schwarze Kostüm sahen, das Mutter mir aus seinem Hochzeitsanzug geschneidert hatte.
Nein, ich nahm sie ihnen nicht ab, die Verlegenheit, die nur einen Augenblick anhielt, er hatte mir den Schmerz geschenkt, und mit ihm ging ich durch die Frühlingsluft, die mir weich über das Gesicht fächelte. In den knospenden grauen Zweigen turtelten die Tauben, und an den Rändern der blanken Gehsteige sprossen spitze Grashalme zwischen gelblichen StraÃenbahnbilletts und schmutzigem Schokoladenpapier. Eine StraÃenfegerin spieÃte die Papiere mit einem Draht sorgfältig wie für einen Bratspieà auf, in dem über Trainingsanzug und wattierte Arbeitsjacke gestreiften Kittel wirkte sie seltsam luftig angezogen. Sie alle gingen eilig an mir vorüber, stellten sich vor den Geschäften in Schlangen an oder standen einander gegenüber an den Tischen, auf denen die Spuren abgeräumter Becher blass schimmerten. Die ersten StraÃenhändler, die traditionelle bunte Anstecker anboten, die man als »Märzchen« an Frauen verschenkte, sprachen, vor Kälte trampelnd und die Hände reibend, die Passanten an, aber die lieÃen sich Zeit bis zum Andrang der nächsten Tage. Auch ich ging mitten unter ihnen, ohne zu wissen, wohin, unter dem kalten Abendhimmel, und in meinem Kopf nur die paar Worte, PFLICHT, SELBSTLOSIGKEIT, EHRE, ANSTAND , auf die ich immer wieder zurückkam, voller Misstrauen und Ressentiments, weil sie mir sein versäumtes Leben vor Augen führten. Ich empfand sie wie künstliche, trügerisch bunte Ballons, die im dünnen Abendnebel schwebten, es war unmöglich, sie denen näherzubringen, die da herumwuselten, selbst mir waren sie fremd.
Nur ihn versuchte ich jetzt heranzuholen, und in Gedanken umkreiste ich ihn, versuchte ihn festzulegen und war dabei vielleicht ungerecht. Ich wollte ihn für immer so sehen, wie er sich an seine eigenen Gebote hielt und wie er zögerte zwischen dem Kompromiss und der Abneigung oder der Bequemlichkeit, ihn einzugehen. Doch mit jedem meiner Schritte zurück veränderte ich meine Vorstellung von ihm, und ich spürte, wie er mir dabei abhandenkam und zur abstrakten Idee wurde. Was immer ich mir sagte, ich sagte es ihm, verspätet und vergeblich, seine ohnmächtigen Zweifel erkannte ich als die meinen, etwas an ihm war in mir und würde es weiterhin sein. Er war nur gestorben, damit ich all das verstand, was ich bisher, da ich das Böse nicht mehr vom Guten zu scheiden vermochte, lediglich erahnen konnte. Ich hatte seinen Tod gebraucht, damit alles anders wurde, durch das
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