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Der gleiche Weg an jedem Tag

Der gleiche Weg an jedem Tag

Titel: Der gleiche Weg an jedem Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Adamesteanu
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Mitleid, das mich überkam, wurde mir bewusst, dass ich etwas anderes versuchen würde als das, was er gemacht hatte, nur wusste ich nicht, was das war, und ich ging die Straße entlang, den Blick zu Boden gesenkt. Aber das Warten auf ihn jenseits der Zeit führte nirgends hin als auf den entlegenen, vom Regen ausgewaschenen Pfad, wo sein Name auf einem wasserüberströmten Holzkreuz zu verbleichen begann. Nein, kein Preis schien mir zu hoch, um etwas zu machen, ich würde alles versuchen, was er nicht versucht hatte, alles, wovon er mich abgehalten hatte, ohne es mir zu sagen. Ich erinnerte mich noch, wie er mich ansah mit vor verhaltenem Ärger ergrautem Gesicht, und mir wurde angst vor der Unerbittlichkeit meines Blicks, in dem er gebannt bleiben würde, aber auch das zählte nicht mehr, denn jetzt lebte nur noch ich.
    *
    Â»Eine Zeitlang habe ich dich absichtlich nicht mehr aufgesucht«, sagte Barbu und zog den Plastikstuhl mit dem schweren Eisengestell näher heran. »Ich wusste aber alles, was du machst, in dieser Zeit …«
    Er raschelte mit dem billigen Papier der Zigarettenpackung Marke CarpaÅ£i ohne Filter. Seine Augen verharrten auf meinem Gesicht, wenn ich wegsah, und glitten zur Seite, wenn ich ihn ansah. Er war also nicht in die Bibliothek gekommen, hatte nicht meinen leeren Stuhl betrachtet und wusste auch gar nichts von der Woche nach den Ferien, als ich jedes Mal, wenn die Tür aufging, zusammengezuckt war und aufgesehen hatte. All das erschien mir jetzt so lange her …
    Ohne ihm zu antworten, streckte ich die Hand nach der Zigarettenpackung aus. Sein verständnisvoll fürsorglicher Blick irritierte mich genauso wie die Bestimmtheit seiner Worte, ich wäre am liebsten aufgestanden und gegangen. Doch ich blieb schweigend sitzen und schlürfte von dem kalten Kaffee.
    Â»Lassen wir die dumme Geschichte von damals, machen wir es, wie du willst«, sagte er.
    Schräg lehnte er an der Wand des Eingangsbereichs.
    Mir war es egal, ob er nie mehr zurückkehren oder mich morgen genauso erwarten würde mit seinem wässrig weichen Blick, den ich nur zu gut kannte. Das breite Trauerband hatte sich gelöst und rutschte zu meinem Ellbogen hinunter, ich zog es wieder hoch und sah hinüber zu den Paaren, die auf der dunklen Allee schäkerten. Alles hier stand im Zeichen von Onkel Ions Tod, das ich in mir trug. Wäre es nicht so gewesen, hätte ich nicht die feuchte Hand nach Barbu ausgestreckt, die ihn suchte, obwohl es ihm gleichgültig war.
    *
    Die Dinge, zu denen ich zurückkehrte, waren undefinierbar fremd geworden, anders, als ich geglaubt hatte. Die Gestalt von Barbu an der Straßenkreuzung, wo er auf mich wartete, erschien mir knabenhaft, wenn er sein Gesicht vor Verlegenheit verzog. Ich verharrte in dieser seltsamen Gleichgültigkeit, die Augen starr auf meinen Schmerz gerichtet, den ich so gut kannte, dass ich ihn gar nicht mehr spürte. Dadurch gewann ich zum ersten Mal die Oberhand und ahnte zugleich: Für mich gab es keinen Weg zurück zu ihm. Er küsste mich schnaufend, mit einem verschleierten Glanz in den Augen, den er früher nicht gehabt hatte und in dem ich manchmal zu Unrecht die Tränen vermutete, die ich selbst unter den Lidern trug. Nie war er mir ferner gewesen als jetzt, da ein merkwürdiges Mitleid mit allem und jedem meine Hände dazu zwang, ihm durch das fettige Haar zu fahren.
    Ich trat mit vor Schlaflosigkeit brennenden Augen näher an das Fenster, durch das ein neuer Morgen hereinschien. Unten sprossen ungeheuerlich die Blätter des Frühjahrs, noch nie hatte ich gespürt, wie die Knospen unter dem schmerzlichen Druck der Säfte aufsprangen. Klebrig schrumplige Blättchen erschauerten lautlos, darunter dampfte der warme Asphalt, muntere Spatzenschwärme zirpten wie dünner Regen. Die Bäume erschienen mir grün verschleiert, es roch nach Flieder. Wann ist der denn aufgeblüht?, fragte ich mich. Ich wusste es nicht, Barbus Augen waren jetzt genauso grün, und ich gewahrte seinen sehnigen jungen Körper neben mir. Ich bewegte mich unter einer Glocke des Schweigens, und in nächster Nähe brodelte und wuchs unsichtbar eine neue, eine andere Welt …
    Immer seltener gelang es mir, Onkel Ion wiederzufinden. Mein störrischer Kinderblick hatte ihn verloren, und wenn ich ihn jetzt heraufbeschwor, zersprangen mir ganze Jahre in den Händen und übrig blieben

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