Der gleiche Weg an jedem Tag
nur Scherben von Worten und Gesten. Die ganze Stadt wuchs über ihn hinweg, stellte ich fest, wenn ich Samstag für Samstag Mutter besuchte. Neue Blocks und eilige Menschen verwischten seinen Gang und seinen Schatten auf den StraÃen, und auf den von ihm beschriebenen Seiten gilbte die Sorgfalt weiter vor sich hin. Hartnäckig versuchte ich ihn zurückzuholen, aber jeder Augenblick des Tages trug ihn weiter weg. Immer seltener weinte ich, in den Kissen verkrochen, um ihn und hatte immer weniger, was ich ihn fragen wollte. Es war so gut gewesen mit ihm, manchmal, aber wieso, das wusste ich nicht mehr und hatte vergessen, warum ich ihn suchte.
Nur manchmal tat sich eine traurige Leere auf in der Welt und ich spürte, wie alles, was er gewesen war, darin auf mich wartete. Vielleicht trug ich ihn, den Vergessenen, schon in mir, ohne es zu wissen, und fand in seinem Gesicht immer wieder die Ruhe, an die ich nicht glauben wollte und die ich ihm ohnmächtig gönnte.
Kapitel XIV
I rgendwo aber musste er noch sein, und dieser Ort war für mich nach wie vor kein anderer als unsere Stadt. Es war schon fast ein Jahr her, seit ich mich daran gewöhnt hatte, ihn weit weg zu wissen, deshalb gab es ganze Stunden, in denen sein Tod mir so ungewiss erschien, als wäre er gar nicht gewesen. Auf dem rissigen Belag der verwinkelten StraÃen musste sich sein Schatten wohl schwerfällig weiterschleppen, in dem mit Möbeln vollgestellten Zimmer saà er wahrscheinlich weiterhin mit mechanisch wippendem Fuà und exzerpierte aus Büchern und Zeitschriften.
Wo aber mochte er für Mutter noch sein, wenn sie abends den Schlüssel ins Schloss steckte und die Tür zu den beiden Zimmern öffnete, die nun schon fast zu viele waren, erstarrt in der Stille, vor der sie sich fürchtete, und wenn sie eine Zeitlang auf der Schwelle verharrte und den Tisch im Esszimmer betrachtete, auf dem keine Teller mehr ihren angestammten Platz hatten, und die allzu aufgeräumte Küche, in der es nicht nach Essen roch? Wie mochten ihre Nächte sein, wenn sie immer wieder aufschreckte im nassgeschwitzten Nachthemd, wenn sie zögerte, sich umzuziehen, und wenn ihre schlaftrunken verstörten Augen, geweitet vom Schrecken der Erinnerung, am blutroten Flackern des Ãllämpchens hängen blieben? Wie mochte sie, erschöpft vom Weinen, wieder einschlafen und wieder erwachen und mit einer mittlerweile reiflich eingeübten Geduld der Stunde entgegensehen, wenn das graue Licht des Morgens durch die vergilbten Fransen des Vorhangs schien? Dann stand sie auf, ohne Eile, denn sie hatte keinen Kaffee mehr aufzusetzen für sie beide und für niemanden mehr ein Frühstück zu richten. In der Tür schaute sie in ihrer Handtasche noch einmal nach den kleinen Kerzen und dem Ãlfläschchen und dem Mitbringsel für den Friedhof, seufzte unhörbar und zog die Tür fest hinter sich zu.
»Es geht über meine Kräfte, nicht hinzugehen ⦠Wie stellst du dir das vor, ich wäre so nahe und ginge nicht zu ihm â¦Â«
Ihr zerfurchtes Gesicht verzog sich vor kindlichem Starrsinn, ihre Nase rötete sich, und unvermittelt begannen die Tränen zu flieÃen. Denn irgendwo musste er ja noch sein, und für sie konnte das nirgends sein als eben dort. Deshalb ging sie die StraÃe bergan, an deren Ende sie die weiÃe Mauer sah, die sich um die Gräber zog, die wenigen Grüfte und die Marmorkreuze mit ausgebleichten Porträtfotos.
Ich aber hielt es für unmöglich, dass nicht auch sie sich manchmal gewünscht hätte, in eine fremde Stadt zu ziehen wie in ein unbekanntes Land. Damals, vor langer Zeit, konnte ich ihr Desinteresse nicht verstehen, es schien mir unverzeihlich. Ich saà vor dem zerfledderten Atlas des Onkels und wollte die Länder mit Rot, Orange und Blau nachzeichnen.
»Halt dich nicht an diesen Atlas â das ist Europa vor dem Krieg«, sagte Onkel Ion, als er mir über die Schulter sah. »Nimm besser deinen â¦Â« Und er schob mir den russischen Atlas unter, den sie mir gekauft hatten, als ich vierzehn war und meinen Personalausweis bekam.
»Wie?«, fragte ich Mutter verblüfft, steckte den Farbstift in den Mund und begann darauf herumzukauen. »Wie? Da gibt es so viele Länder, und du warst in keinem von ihnen?«
»Du bist vielleicht gut â¦Â« Sie zuckte mit den Schultern, legte die Nadeln aus der Hand und
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