Der globale Polizeistaat
Gelassenheit, das Problem in rechtsstaatlicher Ruhe zu betrachten. Der Fall ist tatsächlich nur die extreme theoretische Zuspitzung einer bekannten und allgemein akzeptierten Situation: Im Geltungsbereich der von uns akzeptierten Rechtsordnung gibt es zahllose Fälle, in denen Gefahren, ja sichere Verheerungen in Kauf genommen werden, weil wir die Opfer einer wirksamen Abwehr scheuen. Das gesamte Polizeirecht und genau betrachtet auch das Strafrecht existieren gerade zu dem Zweck, die Fälle, in denen staatlich interveniert werden darf, von denen zu trennen, in denen das besser unterbleibt. »Alle Schurken werden angemessen bestraft« - eine solche Norm würde unter einem geeigneten Justizminister flächendeckende Remedur schaffen - allein, sie wäre kein Recht, weil sie nichts begrenzt. Das Recht begrenzt nicht nur die Suche nach Sicherheit, es zwingt zuweilen sogar dazu, bewusst Risiken in Kauf zu nehmen: »Im Zweifel für den Angeklagten« ist ein Gebot des Strafrechts, das manchmal in der rechtsdurchsetzungslüsternen Öffentlichkeit für Irritationen sorgt. »Im Zweifel für die Freiheit« ist ein Verfassungsgrundsatz des Grundgesetzes, der sogar bei manchen Staatrechtslehrern für Irritationen sorgt. 12 Sogar Massensterben nimmt die Rechtsordnung in Kauf, weil die Bekämpfung der Ursachen zu viele Freiheitseinschränkungen oder einfach zu viel Geld kosten würde: Tausende, die im Autoverkehr sterben, sind so nicht Grund genug, auch nur die Geschwindigkeit nachhaltig zu beschränken. Die Menschenopfer, die jährlich durch Feinstaub in der Luft gefordert werden, zählt man in Brüssel penibel - und die Kosten einer umfassenden Sanierung der verantwortlichen Dreckschleudern werden von den Mitgliedstaaten dagegen aufgerechnet. Die Gesellschaft ist eine »Risikogesellschaft« 13 : Mit welchen Risiken sie leben will, entscheidet sie durch die Grenzen, die sie staatlichem Handeln mit Parlamentsgesetzen setzt. Zumindest in der Demokratie werden die Grenzen der inneren Sicherheit vom Volk gesetzt.
Entsprechend ist es kein Wunder, wenn der Staat und die von ihm bezahlten Minister dies als Begrenzung ihrer Bemühungen empfinden. Doch wenn sie mit der Behauptung, sie könnten innere und äußere Sicherheit nicht trennen, statt des Polizeirechts das Kriegsrecht benutzen wollen, ist dies undemokratisch. Denn im Bereich des Kriegsrechts gelten ganz andere Risikoregeln. Und über die hat das Parlament kaum etwas zu bestimmen, sie sind Sache des Völkerrechts.
Die Grenze zwischen Friedensrecht und Kriegsrecht im friedlichen Deutschland zu ziehen, ist eine Sache. Doch ist die Ordnung der Welt nicht am anderen Ende derselben durcheinandergeraten, im wilden Afghanistan, um das sich bisher Diktaturen wie die UdSSR ebenso vergeblich bemühten wie neuerdings Demokratien? Ist nicht das seit Jahren, Jahrzehnten währende Problem des Terrorismus im Nahen Osten, bei Israels Nachbarn, die entscheidende Herausforderung für eine Debatte über das Verhältnis von Frieden und Krieg? Welches Recht soll gelten, wenn Raketen libanesischer Hisbollah-Terroristen in Israel friedliche Zivilisten töten? Ist eine Bodenoffensive israelischer Truppen in Gaza dasselbe wie der US-Krieg gegen den Terror in Afghanistan? Wenn die Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden, zwischen Kampf mit Waffen und Kampf mit dem Recht funktionieren soll, muss sie auch hier funktionieren. Menschenrechte und Demokratie sind nicht dem gemütlichen Teil der Welt vorbehalten.
Die Frage, wo die innere Sicherheit endet und der Krieg beginnt, stellt sich gerade in den nicht etablierten Staaten der Welt, ringen sie, wie Palästina, um ihren Bestand, seien sie, wie Afghanistan, von fundamentalistischen Eroberern in die Anarchie gestoßen oder, wie Sudan, von brutalen Potentaten zugrunde regiert. Der Geltungsbereich der Rechtsordnung, die eine Sphäre der inneren Sicherheit konstituieren könnte, ist zumindest unklar, oft gar nicht vorhanden. Das Völkerrecht, das hier Ordnung schaffen müsste, steht vor demselben Problem, seit es Bürgerkriege gibt: Von welchem Zeitpunkt, von welcher Wucht der Gewalt an ist
ein Aufstand von Rebellen nicht mehr als Problem der inneren Sicherheit zu sehen, folglich nicht mehr in den Grenzen des Polizeirechts (so es eines gibt) und des Strafrechts (das es meistens gibt) zu behandeln?
Geht man vom herkömmlichen Verständnis des Krieges als gewaltsamer Auseinandersetzung zwischen Staaten aus, so ist der Punkt, da ein Volksaufstand zum Krieg
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