Der globale Polizeistaat
Yousef bewiesen, flüssigen Sprengstoff, Zünder und Zubehör als Reiseutensilien getarnt an Bord eines Flugzeuges zu bringen - und die Maschine damit zum Absturz zu bringen. Die größte Polizeiaktion in der Geschichte von Scotland Yard lief an. Rund fünfzig Personen von der Liste wurden monatelang ständig überwacht. Tausende von Polizisten waren rund um die Uhr im Einsatz. Als Khan dabei beobachtet wurde, wie er in Elektronik-Bastelläden nach Bauteilen suchte und in einem Internetcafé Flugverbindungen in die USA recherchierte und auf einen Datenstick herunterlud, schalteten die Briten ihre Kollegen in den USA ein. Auch Pakistan wurde informiert. Khans Haus im Londoner Stadtteil Walthamstow war ab sofort unter totaler Kontrolle der Ermittler. Wanzen und Videokameras übertrugen live in die Antiterrorzentrale, was da vorging. Plastikflaschen wurden präpariert, Flüssigkeiten gemixt, einmal hob Khan sogar drohend den Finger und deklamierte: »Now the time has come for you to be destroyed!«
Bei Scotland Yard war man überzeugt, dass die Zeit nun gekommen sei, einzugreifen: Der Welt drohe »ein Massenmord
von unvorstellbarem Ausmaß«, befand Scotland Yards Vizechef Paul Stephenson, mindestens sieben Transatlantikflüge, so kalkulierten die Ermittler, sollten möglicherweise am Himmel zur Explosion gebracht werden, und möglicherweise nicht über dem offenen Meer, sondern kurz vor der Landung, über Metropolen wie New York oder Washington. Die Katastrophe, die Londons Terrorismusexperten nicht anders als die Kollegen vom FBI in den USA vor sich sahen, hätte den 11. September womöglich in den Schatten gestellt: Auch diesseits des Atlantiks hätte man fortan von »Krieg« gesprochen.
Im Morgengrauen des 10. August 2006 gab es ein für die frühe Stunde selbst auf dem Flughafen Heathrow ungewöhnliches Gedränge bei der Abfertigung. Die Sicherheitskräfte filzten plötzlich alle Passagiere mit scheinbar manischer Besessenheit. Mütter von Kleinkindern mussten jedes Döschen Babynahrung öffnen und vom Inhalt ein Löffelchen verzehren, um zu beweisen, dass es sich nicht um Sprengstoff handelte. Keine Banane kam mehr ungeschält an Bord. Kurz darauf wurden alle Amerikaflüge abgesagt. Wenige Stunden zuvor hatte der britische Innenminister entschieden, dass die Ermittler nun den Dingen nicht länger ihren Lauf lassen konnten. Noch am selben Tag wurden 24 mutmaßliche Mitglieder der Terrorgruppe verhaftet, einer davon musste gleich wieder freigelassen werden. Doch Khan war unter den Hauptverdächtigen. In seinem Haus stellten die Ermittler nicht nur bombenfähiges Wasserstoffperoxyd sicher, sondern auch den USB-Stick mit den Flugdaten der Maschinen, die sich die Verhafteten für ihre Taten offenbar ausgesucht hatten. Sogar Videos fanden die Fahnder, in denen sich die Verhafteten als Märtyrer aufspielten und sich brüsteten, Unheil über die verkommene westliche Welt zu bringen.
Die Briten haben den schlimmsten Terroranschlag der Geschichte knapp verhindert: Dies war die Parole, mit der Justizpolitiker von der Insel alsbald Druck in Brüssel machten. So tough wie die Polizei der Krone solle gefälligst auch der Kontinent in Zukunft seinen Krieg gegen den Terror führen. Und
schönen Gruß von den Freunden aus Washington: Dort sehe man das genau so. Tatsächlich verschärfte Brüssel mithilfe von Rahmenbeschlüssen die Regeln in seinem »gemeinsamen Raum des Rechts und der Sicherheit«. Bis heute sind davon vor allem die lästigen Flüssigkeitskontrollen zu spüren. Im Berliner Justizministerium zeigte man sich zwar intern genervt über die ständigen Verbesserungsvorschlage, die von London über Brüssel kamen. »Der Druck, den die Briten machen, ist unglaublich«, sagt ein führender Mann aus dem Ministerium von Brigitte Zypries. Aber zur selben Zeit, da in Justizkreisen kritische Vermerke angefertigt wurden, reiste eine Delegation von Innen mit BKA-Leuten nach London, um sich die ruhmreichen Ermittlungen der Kollegen noch mal ganz genau erklären zu lassen. Besonders beeindruckt zeigten sich die Deutschen von den Videokameras im Haus Khans. So muss man es machen. Terrorfernsehen mit Direktschaltung. »Das wollen wir auch«, sagten die Fahnder vom BKA. Im neuen, lange umstrittenen Gesetzentwurf wurde denn auch der »Videoangriff« dem »Lauschangriff« hinzugefügt.
Gemessen daran war es ein Desaster, was die Londoner Ermittler zwei Jahre später, im August 2008 ereilte. Nach vier Monaten Verhandlungsdauer wurden
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